Glück

Glück

Gemeinfrei via unsplash.com/Pema Gyamtsho

Glück
Eine Spurensuche am Tag der Arbeit
01.05.2020 - 07:05
30.04.2020
Jörg Machel
Über die Sendung:

Die Spurensuche findet in zwei Welten statt: im Königreich Buthan und im biblischen Buch „Prediger Salomo“. Der sagt: Sich mühen und die Früchte der Mühe genießen, das sind zwei Säulen des Glücks, das dem Menschen auf Erden beschieden ist. Erstaunlicherweise trifft sich das mit den Wünschen, die Menschen in Bhutan heute äußern, wenn sie nach dem Glück befragt werden. Die Begegnung der beiden Welten gibt natürlich noch mehr her.

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Heute, am Tag der Arbeit, wird von vielen Menschen das Recht auf Arbeit eingefordert. Zentral geht es dabei um den Anspruch auf ein gutes Einkommen, menschliche Arbeitsbedingungen und eine gesicherte Existenz. Ich will den Blick weiten. Ich lade Sie ein, mit mir auf die Suche nach dem Glück zu gehen. Auch da haben das Einkommen, die Arbeitsbedingungen und die gesicherte Existenz eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Aber Glück ist mehr als das. Gerade in den letzten Wochen der Pandemie ist das vielen schmerzlich, vielleicht aber auch erhellend durch den Sinn gegangen. Die Frage stand im Raum: Was brauche ich, um glücklich zu sein? Wie geht es weiter mit mir, mit unserem Land, mit Europa?

 

 

Kürzlich war ich in Bhutan, einem kleinen Königreich im Himalaya, gelegen zwischen der Volksrepublik China und Indien. Damit habe ich mir einen Wunsch erfüllt, den ich seit Anfang der Achtzigerjahre hege. Ich war Vikar in der deutschsprachigen Gemeinde von Nordindien, Bangladesch und Nepal und hatte viel Kontakt mit Entwicklungshelfern, Diplomaten und Kulturschaffenden. Alle, die durch ihre Arbeit in Bhutan zu tun hatten, schwärmten von diesem Königreich zwischen den Bergen. Für Touristen war es damals fast unmöglich, eine Einreise zu bekommen; und wenn, dann kostete sie viel Geld, für mich unbezahlbar. Auch heute sind Reisen nach Bhutan teuer, aber ein guter Reiseveranstalter kümmert sich um alle Formalitäten und arrangiert Kontakte, so dass man die Chance bekommt, ein Land jenseits des Massentourismus kennenzulernen.

Mit meiner Reise wollte ich vor allem den Nachrichten auf den Grund gehen, die davon berichten, dass Bhutan sich ganz bewusst der Wachstumsideologie des Westens verweigert und ein Gegenkonzept entwickelt. Wenn der Westen seine Erfolge und Misserfolge am Bruttonationaleinkommen zu messen pflegt, so hat sich Bhutan entschlossen, einen Bruttoglücksindex zu definieren und sein Regierungshandeln daran zu orientieren. Dabei beziehen sich die Bhutaner auf einen Rechtskodex des Landes aus dem Jahre 1729, in dem es heißt: 

 

„Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.“ 

 

Jigme Dorje Wangchuck, dritter König Bhutans nahm den Gedanken in den Sechzigerjahren auf und erklärte, das Ziel seiner Herrschaft sei, Wohlstand und Glück für seine Bevölkerung zu erreichen. Dass die Idee vom Bruttonationalglück in die Welt kam, war eher zufällig. Im Jahre 1979 wurde der vierte König Bhutans, Jigma Singye Wangschuck, von einem indischen Journalisten gefragt, wie hoch denn das Bruttoinlandsprodukt seines Landes sei und statt eine Zahl zu nennen, antwortete er, dass ihm das Bruttoinlandsglück seines Volkes wichtiger sei.

 

Viele Jahrhunderte vorher wurde dem König Salomo eine Überlieferung zugeschrieben, nach der auch er sich auf die Suche nach dem Glück begab. In dem biblischen Buch, das in den Übersetzungen mal „Ecclesiastes“, mal „Kohelet“ oder „Prediger Salomo“ betitelt ist, stellt der weise König aus der Frühzeit Israels ebenfalls Überlegungen an, wie es um das Glück des Menschen bestellt ist.

Der Grundton seiner Einsichten ist skeptisch. „Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind.“ Dieser Satz taucht immer wieder auf. Salomo experimentiert in vielen Bereichen. Er versucht es mit der Weisheit, mit dem Reichtum, er umgibt sich mit schönen Frauen, er schafft große Werke; und immer findet er das Haar in der Suppe. Und bald wird der Leserin und dem Leser klar: Die absolute Zufriedenheit, das ganz große Glück ist nicht zu finden in dieser Welt.

Wer nun aber meint, der große Weise hätte damit resigniert, der irrt. Salomos Weisheit besteht darin, sich bescheiden, sich selbst begrenzen zu können. Er verwirft die utopische Suche nach dem vollkommenen Glück und schaut auf das, was ihn glücklich macht. Und dafür findet der weise König wunderbar aufmunternde Beispiele. In einem Satz, wie für den heutigen Tag geschrieben, lobt er den Wert der Arbeit: 

 

„So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil.“ (Kohelet 3, 22)

 

Sich freuen bei seiner Arbeit, das rät Salomo den Menschen und so hat er es auch selbst erfahren. Arbeit, selbst gewählt und nicht entfremdet; etwas schaffen – das macht glücklich. Doch die Arbeit steht nicht für sich, sie dient neben dem Zweck der Selbstverwirklichung auch dem Ziel der Selbsterhaltung und so stellt er fest:

 

„Ist's nun nicht besser für den Menschen, dass er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei bei seinem Mühen? Doch dies sah ich auch, dass es von Gottes Hand kommt.“ (Koh. 2,24)

 

Und weil ihm der Genuss einer guten Mahlzeit offenbar wichtig ist, unterstreicht er es gleich im nächsten Kapitel ausdrücklich:

 

„Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“ (Koh. 3,12)

 

Sich mühen und die Früchte der Mühe genießen, das sind zwei Säulen des Glücks, das dem Menschen auf Erden beschieden ist. Dazwischen ist viel vom vergeblichen Mühen des Menschen die Rede. Doch immer wieder findet der König Israels auch ermutigende Worte, nennt Dinge, die das Leben lebenswert machen:

 

„So ist's ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. Auch, wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden? Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.“ (Koh. 4, 9-12)

 

Immer wieder kommt Salomo zurück auf das Essen und Trinken und auf das schöpferische Tun des Menschen. Glück ist für den König konkret und kleinteilig. 

 

„So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Tun hat Gott schon längst gefallen. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Genieße das Leben mit der Frau, die du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat; denn das ist dein Teil am Leben und bei deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne.“ (Koh. 9, 7-9)

 

Und erstaunlicherweise trifft sich das mit den Wünschen, die die Menschen in Bhutan heute äußern, wenn sie nach dem Glück befragt werden.

 

 

Es war eine großartige Idee des vierten Königs von Bhutan, das Bruttonationalglück gegen das Bruttonationalprodukt zu setzen. Wie lächerlich stünde Bhutan da, vergliche man dessen Wirtschaftskraft beispielsweise mit der von Deutschland? Aber was sagt das aus über die Lebensqualität, über das Glücksempfinden der Menschen? 

Seine Wirkmacht entfaltete das Wortspiel allerdings erst mit einiger Verzögerung. Im Jahre 1997 stellte die Regierung einen Fünfjahresplan für das Land auf und nahm darin den Begriff aus den Siebzigerjahren wieder auf, um ein Jahr später dann auszuführen, was darunter zu verstehen sei. Der Premierminister Jigmi Thinley formulierte die vier Säulen des Bruttonationalglücks, die eine erste Konkretisierung dieses Ansatzes darstellten.

Eine Säule ist die Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung. Dabei beobachten die Bhutaner, mit denen ich sprach, die Entwicklungen in Indien, China und besonders in Nepal mit einiger Skepsis. Chinas Aufschwung, der mit äußerster Repression erkauft wird und das Bruderland Tibet brutal unterdrückt, schreckt die Leute in Bhutan ab. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die sich in Indien immer stärker ausprägt, kann ihnen auch kein Vorbild sein. Und in Nepal, das landschaftlich und kulturell viele Ähnlichkeiten mit Bhutan aufweist, wurde die internationale Entwicklungshilfe zu einem Korruptionsmotor. Im Übrigen hat sich Nepal durch den Massentourismus zusehends seiner Identität beraubt, so hörte ich immer wieder. Konsequenz für Buthan: weniger Tourismus und Wirtschaftshilfe nur da, wo sie die traditionellen Sozialstrukturen und lokalen Wirtschaftsfelder nicht zerstört. Erst spät ist mir aufgefallen, dass ich im ganzen Land keine Straßenreklame gesehen habe. Es war eine wohltuende Entdeckung.

Das verweist schon auf die zweite Säule, mit der es um die Förderung kultureller und religiöser Werte geht. Bhutan ist ein durch den Buddhismus geprägtes Land. Es wehen Gebetsfahnen am Wegesrand und über den Gehöften, Tempel und Klöster prägen die Ansiedlungen. Mönche gehören zum Straßenbild. Die Bevölkerung betet und opfert, die Religion ist überall präsent im öffentlichen Leben des Landes. Die Städte sind klein, die meisten Menschen leben in Dörfern und von der Landwirtschaft. An Festtagen ist das ganze Dorf auf den Beinen. Frauen versammeln sich zu traditionellen Tänzen, Männer messen sich im Bogenschießen. Die Einheimischen sind angehalten, sich traditionell zu kleiden, wenn sie sich in öffentlichen oder religiösen Einrichtungen bewegen. Viele finden das gut und verweisen auf diese zweite, die Kultur bewahrende Säule für ein glückliches Zusammenleben. Von jungen Leuten hörte ich allerdings, dass sie darin nicht nur einen Halt, sondern auch eine Fessel sehen. Auf meine skeptische Nachfrage rechtfertigten sich die Befürworter dieser Regel, dass es sich bei diesen Säulen nicht um Betonpflöcke handelt, sondern um Orientierungsmarken, die immer wieder neu justiert werden müssen.

 

Die dritte Säule widmet sich dem Schutz der Umwelt. Bhutan schaut auch in dieser Frage hinaus in die Welt. Bei der Weltklimakonferenz spielt Bhutan zwar keine bestimmende Rolle, aber die Diplomaten des Landes kommen zurück mit Schreckensnachrichten. Zum Beispiel aus Bangladesch, wo der Klimawandel verheerende Konsequenzen hat. Hier nun erfreut sich Bhutan seiner verzögerten Entwicklung. Als andere schon Raubbau an der Natur betrieben, ruhte Bhutan noch unentwickelt hinter den schützenden Bergen des Himalaya. Jetzt, wo auch hier ein gewisser Entwicklungsdruck zu spüren ist, versuchen die Verantwortlichen von vornherein die Belange der Natur zu berücksichtigen. Die Flora, die Fauna und die wunderbare Bergwelt müssen bewahrt werden. Das sind Staatsziele und sie dienen dem Glück der Menschen. Das ist vielen bewusst; und weil es Teil der schulischen Bildung ist, besteht die Hoffnung, dass es auch langfristig das Handeln der Bhutaner bestimmen wird. In einem Agrarland wie Bhutan fällt wenig Müll an; und Plastiktüten sind verboten! 

Die vierte Säule definiert gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen als glücksrelevant. Die Regierung legt die Regeln des Zusammenlebens fest; und nur wenn die große Politik stimmt, können die kleinen Leute glücklich leben. Bis 2008 war Bhutan noch ein absolutistisches Königreich, dann dankte der König freiwillig ab und initiierte die Demokratisierung des Landes. 

Schrittweise wird nun ein parlamentarisches System etabliert. Doch noch immer spielt die Königsfamilie eine identitätsstiftende Rolle in Bhutan. Überall hängen Fotos des jungen Königspaares mit ihrem Kind; und alle Bhutaner, die ich traf, fühlten sich dem Königtum tief verbunden, wobei die Vorstellungen über die Notwendigkeit weiterer Reformen und Veränderungen dann schon sehr weit auseinandergehen. In jedem Fall zeigt diese vierte Säule, dass es einen hohen Anspruch an das Regierungshandeln gibt und dass der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geprägte Satz des damaligen Königs auch für das heutige Bhutan gelten soll: 

 

„Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.“ 

 

Wenn man für nur wenige Tage als Tourist durch das Land reist, dann genügen die gesammelten Impressionen nicht, um ein Urteil über das Gelingen oder Misslingen dieses Glückskonzeptes zu fällen. Ich bin aber von meiner Reise mit der Einsicht zurückgekehrt, genauer über das nachzudenken, was mein (Lebens)Glück, was unser Menschenglück eigentlich ausmacht. Worauf legen wir unsere Prioritäten? Wo jagen wir vielleicht sogar Zielen nach, die uns ins Unglück treiben? Wie kann man glücklich sein, auch wenn die materiellen Möglichkeiten begrenzt sind?

 

         

Inzwischen gibt es ja manch unerwartete Lektion zum Thema Glück. Die Pandemie der letzten Wochen hat uns in einer bisher nicht gekannten Weise zur Einkehr gezwungen. Was hat uns getragen in dieser Zeit? Was hat uns mürbe gemacht? Worauf dürfen wir noch hoffen? Wofür lohnt es sich, etwas zu opfern? Vom Prediger Salomo habe ich gelernt, dass das Glück nicht im Absoluten oder Vollkommenen zu finden ist. Also nicht zu fragen, wo finde ich das Glück?, sondern besser, was macht mich glücklich? Eine befriedigende Arbeit, gutes Essen, liebe Freunde, daran hängt viel für mich, wahrscheinlich für die meisten Menschen auf der Welt. Ich hatte das Glück, die Wochen der Isolation im Kreise meiner Familie verbringen zu können, den Garten zu bestellen, endlich die Umzugskartons von vor zwei Jahren durchzusortieren, viel zu lesen, „Die Pest“ von Camus und „das Predigerbuch“ zum Beispiel. Wir haben zusammen gekocht, mein Vater hat Geschichten aus seiner Kindheit erzählt und unsere Tochter hat es genossen, einen Zeitsprung über acht Jahrzehnte mit ihm machen zu können.

 

Bhutan hat Fragebögen entwickelt, um herauszufinden, was die Menschen des Landes wirklich glücklich macht. Vielleicht wäre das eine Idee auch hier, in Deutschland, einmal im großen Umfang nachzufragen und festzuhalten, was uns wirklich wichtig ist: Gesundheit wahrscheinlich, eine intakte Natur, ein gesichertes Auskommen, vielleicht ein bedingungsloses Grundeinkommen, gutes Wohnen, stabile Familien- und Freundesverhältnisse, ein verlässliche Zukunftsplanung, ein guter Job, ein Glaube, der auch in schweren Zeiten trägt. Die alte Formel, dass nur Wachstum Stabilität, Wohlstand, Glück garantieren, kann bei begrenzten Ressourcen nicht mehr funktionieren. 

Unser Glück, unsere Lebensqualität muss sich aus anderen Quellen speisen als aus der „immer-billiger-immer-mehr-Ideologie“. Vielleicht haben Sie ihre Liste bereits im Kopf von dem, was Sie glücklich macht, oder Sie denken einmal in Ruhe darüber nach. Und diskutieren Ihre Überlegungen im Freundeskreis; und dann kämpfen Sie dafür, dass daraus Staatsziele werden. Vom König Salomo und durch meine Reise in das Königreich Bhutan habe ich viel gelernt über die Probleme mit dem ganz großen Glück und über den Wert der vielen glücklichen Momente, für die es keine Reichtümer braucht. Lektionen aus dem Himalaya und aus der Antike, die auch am heutigen Tag der Arbeit Beachtung verdienen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
Søren Gundermann, Europe Variations, Piano, LC 23414, komponiert und improvisiert von Søren Gundermann unter Verwendung der Melodie der Europahymne (Ludwig van Beethoven)

30.04.2020
Jörg Machel