Im Zweifel für das Vertrauen

Im Zweifel für das Vertrauen

Gemeinfrei via unsplash.com/Sarah Dorweiler

Im Zweifel für das Vertrauen
Über die Freiheit der Glaubenden
28.06.2020 - 07:05
25.06.2020
Michael Becker
Über die Sendung:

Du weißt, was frei macht, und tust es nicht. Ich weiß, dass ich Gott „über alle Dinge“ vertrauen soll, und ich vertraue ihm nicht. Im Zweifel halte ich fest an dem, was mir gehört, was ich hart erarbeitet habe, angeblich mit eigenen Kräften. Im Zweifel für mich. Und was geschieht jetzt?

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Sendung nachlesen:

Vieles im Leben dreht sich um Freiheit, um frei sein. Um Bindungen und um die Angst davor. Der eine bindet sich gerne und fällt auch mal zur Last, die andere sehnt sich nach Freiheit und Unabhängigkeit von möglichst allem. Manche sind frei und machen andere zu Knechten. Andere begehren auf gegen Herrschaft und riskieren Kopf und Kragen für ihre Freiheit. Und die freiesten Geister landen dann in den Gefängnissen Nordkoreas, Chinas, Weißrusslands oder Saudi Arabiens, nur weil sie in der Bibel geblättert haben.

Die Weltgeschichte ist auch eine Befreiungsgeschichte bis hin zur Aufklärung. Die sagt ja: Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Sei von nichts abhängig. Ja, wenn es so einfach wäre. „Ein Christenmensch“, sagt Martin Luther, „ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand(em) untertan.“ Und wie man da sofort zustimmen möchte, kommt noch ein zweiter Satz Luthers hinterher, der heißt: „Ein Christenmensch ist (aber auch) ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Es gibt die Freiheit nur in Abhängigkeiten, heißt das. Vollkommene Freiheit ist ein böser Traum und wird schnell zur Willkür. Ist nur einer zu allem frei, beginnt bald das Chaos oder die Diktatur. Freiheit hat Bedingungen. Meine Freiheit hat ihre Grenze in der Freiheit der anderen. Die Lage ist verzwickt.

Vorläufig sage ich mal: Freiheit ist, nichts wollen zu müssen. Freiheit ist, an nichts zu hängen. Außer am Vertrauen zu etwas Größerem als ich.

 

 

Frei ist, wer nichts wollen muss. Keine Begierde, keine Gier, kein Begehren mehr. So mag das sein für den Einzelnen, die Einzelne. Frei von allem, vor allem vom Wollen. Wer seinen oder ihren Willen zähmt oder besiegt, ist frei.

         Dazu möchte ich jetzt die Geschichte einer „Wette“ erzählen. Die Geschichte ist vom Russen Anton Tschechow (1860 – 1904), der eigentlich Arzt von Beruf war und gerne auch denen half, die nichts zahlen konnten, meistens den armen Bauernfamilien in Russland. So frei war er. Frei zum Verzicht. Immer fragte er nach dem Leben und der Freiheit des Geistes. Darum seine Erzählung „Die Wette“.

 

In einer dunklen Herbstnacht sitzen ein paar Herren zusammen und reden. Es gibt Punsch und Zigarren. Die Meinungen fliegen hin und her. Wer verdient Strafe, wer hält das Gefangensein aus? Ist es nicht besser zu sterben, als Jahrzehnte im Gefängnis zu sitzen?

Nein, sagt ein Student, fünfzehn Jahre Unfreiheit halte ich aus, wenn es um etwas Wertvolles geht.

Da bietet ihm ein reicher Bankier mit viel Geld eine „Wette“ an: Ich gebe dir, sagt er zu dem Studenten, zwei Millionen, wenn du dich fünfzehn Jahre ins Gefängnis setzt. Auf die Stunde heute in fünfzehn Jahren bekommst du zwei Millionen Rubel. Der Student schlägt in die Wette ein; und das Furchtbare beginnt. Das Gartenhaus wird zur Festung. Der Student darf keine Menschen sehen, keine Stimmen hören, keine Briefe oder Zeitungen empfangen. Er darf nur ein Klavier haben und Bücher nach Wunsch, der darf Briefe schreiben und Wein und Tabak durchs Fensterchen gereicht bekommen. Und tatsächlich beginnen in diesem Moment die fünfzehn Jahre Unfreiheit.

 

Fünfzehn Jahre Unfreiheit für zwei Millionen Rubel, so geht die Wette. Der junge Mann geht sie ein, der reiche Ältere will bezahlen. Im ersten Jahr litt der Gefangene, wie seine Notizen später ergeben, heftig unter Einsamkeit und Langeweile. Manchmal spielte er Klavier. Im zweiten Jahr nicht mehr, da ist es oft sehr ruhig, sagen die Beobachter. Selbstgespräche habe es gegeben, sonst wenig. In den nächsten Jahren kamen die Bücher: Sprachen, Philosophie, Geschichte. Es sollen um die sechshundert Bücher gewesen sein, die sich in der Hütte stapelten, schreibt Anton Tschechow in seiner Geschichte. Und nach dem zehnten Jahr dann saß der Mann meist reglos am Tisch und las nur noch in einem einzigen Buch: dem Neuen Testament, dem Evangelium. „Er las, als schwömme er im Meer zwischen den Wrackteilen eines Schiffes herum und klammerte sich an die Bücher, um sein Leben zu retten.“

Dann nähert sich der große Tag. Mit Schrecken nähert er sich. Denn der ältere Herr hat von seinem einst großen Besitz nichts mehr als gerade noch die zwei Millionen. Die will er nun aber unbedingt behalten. Er klammert sich an sie und denkt nun darüber nach, der Wette eine Gewalttat folgen zu lassen. Wenn ich den Studenten töte, denkt er, wird ihn niemand vermissen und ich behalte mein Geld. So plant er es und schleicht sich in der Nacht vor dem großen Tag in die Gartenfestung. Dort sieht er den Gefangenen schlafen, mit dem Kopf auf dem Tisch. Vor ihm liegt ein kleiner Zettel, eine Art Brief an den reichen Mann, darauf steht: Fünfzehn Jahre habe ich mich an unsere Wette gehalten. Ich habe studiert und nachgedacht. Heute sage ich: Ich verachte alles, wofür Sie leben. Ich verachte Ihre weltlichen Güter und die Weisheit. Es ist alles nichtig. Um Ihnen und Ihrem Besitz meine ganze Verachtung zu zeigen, werde ich fünf Stunden vor dem Termin aufstehen, hinausgehen und den Vertrag brechen. Ich verzichte auf euer Geld. So steht es auf dem Zettel.

Der ehemals reiche Mann steckt leise das Blatt Papier in seine Tasche, beginnt zu weinen und küsst den Schlafenden auf den Kopf. Am hellen Tag dann kommt alles so, wie es im Brief geschrieben steht. Der Gefangene ist gegangen, der Vertrag gebrochen. Der Ältere behält sein Geld und versteckt dazu auch noch den Zettel, um kein weiteres Gerede aufkommen zu lassen.

Der eine bleibt in seiner alten Knechtschaft, der andere in seiner neuen Freiheit.

Freiheit ist, nichts wollen zu müssen.

 

 

Freiheit hat mit Begehren zu tun. Was will ich? Was brauche ich? Was halte ich fest? Kein Mensch kann alles abschütteln, was er braucht, natürlich nicht. Jeder Mensch muss sich um etwas und um Menschen kümmern und sorgen. Keiner ist so frei, alles von sich zu geben. Als Überschrift aber mag es taugen, wenn gesagt wird: Freiheit ist, nichts wollen zu müssen. Weniger Kämpfe um das Unbedingt-haben-wollen. Weniger begehren oder gar meinen, begehren zu müssen. Weniger Kampf mit anderen, die uns etwas wegnehmen, angeblich. Oder meinen, dies und das stünde uns aber doch zu, stünde uns unbedingt zu. Man ist nicht mit einem Schlag frei von allem, aber man kriecht sich vielleicht daran heran. Um das zu können, braucht man ein Ziel, eine Überschrift, die den Weg beleuchtet: Freiheit ist, nichts wollen zu müssen.

Freiheit beginnt mit einer gewissen Lässigkeit, etwas lassen zu können, verzichten zu können ohne Furcht. Ach… das gebe ich hin, das verteile ich jetzt schon. Was soll ich mit dem allem? Warum hält mich das eigentlich so fest? Und überhaupt: Wer hält sich an wem fest: der Besitz an mir oder ich am Besitz? Warum teile ich nicht jetzt schon? Wenigstens etwas? Geld oder Sachen. Muss ich alles behalten? Brauche ich alles? Wirklich? Sogar mein Erbe ist frühzeitig regelbar …

Nein, ich kann das alles auch nicht gut. Ich möchte das können, aber oft zögere ich. Aus Furcht zögere ich, ich könnte es vielleicht noch einmal gebrauchen. Es könnte mir noch einmal nützen. Man braucht alles doch irgendwann mal, denkt man. Es geht so viel Geld drauf, vielleicht irgendwann mal im Pflegeheim. Wer weiß, wie alles noch weitergeht. Von Sorge zu Ängstlichkeit ist nur ein kleiner Schritt. Nicht viel größer ist der Schritt von Ängstlichkeit zum Festklammern. Und noch ein kleiner Schritt, und wir sind beim Habenwollen nach immer mehr. Angst ist wichtig. Man muss sie ernst nehmen. Sie ist aber keine Begründung für immer mehr Wollen und immer fester Halten.

Freiheit beginnt mit einer gewissen Lässigkeit. Muss ich das haben? Muss ich das behalten? Und: Muss ich Recht behalten? Ist Wahrheit nur bei mir oder hat der andere auch sein Recht?

Warum beharre ich so sehr? Warum beharre ich manchmal bis zur Bitterkeit?

 

 

Freiheit ist, nichts wollen zu müssen. Das ist wie eine Art Überschrift, der ich hinterher gehe. Und dabei denke ich noch an eine kleine Erzählung aus dem Neuen Testament (Markus 10, 17-22). Eine Erzählung von Liebhaben und Traurigsein. Schon allein darum ist sie so besonders schön.

Es passiert gar nichts Besonderes. Jesus und die Seinen ziehen durchs Land, wie so oft. Heute hier, morgen dort. Ein paar gute Worte für die, die man trifft. Aufregend ist nur, wenn mal jemand vorbeikommt wie der junge Mann, von dem ich jetzt erzähle. Der kommt nicht nur, er fällt auch sofort auf seine Knie. Er hat einen Plan und eine Hoffnung, sonst würde er nicht auf die Knie fallen vor Jesus. Tatsächlich fragt er: Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?

Ein Traum, dieses ewige Leben. Nicht einfach ewig leben, sondern ewig in Liebe leben. Für diesen Traum fällt man schon mal auf die Knie. Sehnt sich eine Antwort herbei, die auch kommt. Jesus sagt ihm: Das weißt du doch: Halte die Gebote, das tut dir und allen anderen gut. Stehle nichts, rede nichts Falsches, ehre Vater und Mutter, halte die Feiertage. Das alles bringt dir die Liebe, die du haben willst. In Ewigkeit. So Jesus.

Aber der junge, reiche Mann ist mit der Antwort nicht zufrieden. Noch einmal nimmt er das Wort und sagt: Das tue ich alles schon lange. Von Jugend an. Dann ist Stille.

Und im Stillen geschieht Ungeheuerliches, was von Jesus selten erzählt wird: Jesus gewinnt ihn lieb. Jesus erfühlt etwas bei dem jungen Mann: Ein Sehnen, ein Suchen nach Freiheit, nach Erfüllung eines Traums. Darum sagt er zu dem jungen Mann: Eins fehlt dir noch. Geh hin, verkaufe alles, was du hast … dann hast du einen Schatz im Himmel.

Das ist aber dann doch zu viel für den jungen Mann. Und es geschieht das andere nach dem Liebhaben: Das Traurigsein. Der junge Mann wird betrübt und geht traurig davon; denn er hatte viele Güter. Aber vielleicht, vielleicht kommt er morgen ja wieder. Oder in einer Woche, einem Monat. Und Jesus hat ihn dann immer noch lieb.

Besitz ist nicht teuflisch; Besitz ist schön.

Und man hat ihn, um zu teilen.

 

 

Freiheit ist, nichts wollen zu müssen. Ein hübscher Gedanke, luftig und leicht. Man will zustimmen. Und kaum will man aus diesen großen Worten eine kleine Tat machen, zuckt man zusammen und fürchtet sich. Ich soll verzichten? Abgeben? Mich freiwillig ärmer machen, als ich bin? Warum denn? Die Antwort ist so einfach wie schwer: Weil ich freier werde. Einen Schatz im Himmel habe. Weil ich Gott dann mehr traue als dem, was ich habe. Im Wort Vertrauen klopft das Herz der guten Nachricht, des Evangeliums. Und auch das Herz der Reformation.

Ich höre, was wirklich frei macht - und vertraue doch wieder nicht. Weil ich lieber mir vertraue. Weil ich bei mir auf der sicheren Seite bin. Weil ich mich sonst fürchte. Weil ich nicht einsehe, dass andere kriegen, was ich erarbeitet habe. Weil andere selbst schuld sind, wenn sie nichts haben. Weil Opfer sowieso nichts bringen. Weil mir meine Furcht lieber ist als das Vertrauen auf Gott. Schon merke ich: Es gibt hundert Gründe für Furcht und Misstrauen. Und alle überzeugen mich. Jesus überzeugen sie nicht. Zu jedem meiner Gründe sagt er geduldig: Gott ist mächtiger; Gott ist wichtiger; Gott kümmert sich um deine Furcht. Beim kleinsten Misstrauen sagt Jesus aus vollem Herzen zu mir: Gott sorgt für dich wie für das Gras, das da wächst und grünt und wie für den Vogel, der da fliegt; schau: Da oben am Himmel! Vertrau doch; das macht dich frei.

Aber es hilft nicht. Ich gehe traurig davon wie der reiche Mann. Der Mann hört, was Freiheit ist: Halte nichts fest, und du wirst reich. Oder: Vertrau Gott in allem, und du hast weniger Furcht. Aber der Mann vertraut nicht, er behält und sichert sich ab. Das Herz des Evangeliums sagt: Du weißt, was frei macht, und tust es nicht. Ich weiß, dass ich Gott „über alle Dinge“ vertrauen soll, und ich vertraue ihm nicht. Im Zweifel halte ich fest an dem, was mir gehört, was ich hart erarbeitet habe, angeblich mit eigenen Kräften. Ich will frei sein und kette mich an alles Mögliche.

Im Zweifel für mich. Und was geschieht jetzt?

 

 

Im Zweifel für mich. Was geschieht dann?

Dann wartet Gott. Wartet wie der Vater auf sein weggelaufenes Kind. Gott sagt nicht: Du musst dies oder das tun. Das wäre nicht Freiheit und Gnade, das wäre Gesetz. Gott wartet nicht mit Gesetz, er wartet mit Gnade. Und bietet Freiheit. Er wartet auf mein Gewissen. Auch Martin Luther hatte ja Dienstmädchen und eine warme Stube und ein paar Gläser Bier am Tag. Er warf nicht weg, was er hatte. Er fragte sein Gewissen: Was macht frei? Was kann ich opfern? Was tut mir weh, hilft aber anderen? Hängt mein Herz am Rechthaben, dann gib dies weg. Hängt mein Herz daran, dass ich immer und überall unschuldig bin, dann gib dies weg. Hängt mein Herz am falschen Lebensstil, ändere ihn. Hängt mein Herz an mehr Geld als nötig, gib ab davon. Und wenn ich es nicht kann, will ich mich wenigstens bemühen, besten Wissens und Gewissens. Gott wartet geduldig. Darauf, dass mein Vertrauen zu ihm größer wird als meine Furcht zu verlieren.

Gott wartet, dass ich mich befreie. Hauptsache, ich bin nicht dauernd zufrieden mit mir. Gott will nicht, dass ich zufrieden bin mit mir; Gott will, dass ich zufrieden bin bei ihm. Im Zweifel für Gott. Im Zweifel für das Vertrauen, die Befreiung, den Schatz im Himmel. Ich verliere noch nicht einmal dabei. Weil etwas geben und Gott vertrauen himmlisch ist. Freiheit ist, nichts wollen zu müssen. Das macht manchmal leicht und beschwingt, wie der Vogel am Himmel.

Frei werde ich, wenn Vertrauen größer ist als Furcht. Wenn Gott mich anlacht und sagt: Du musst nichts fürchten. Nichts. Du gehörst doch mir.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Maurizio Pollini, Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32, op. 111, Arietta

25.06.2020
Michael Becker