Mehr als ein Spaziergang

Skulptur "Leid an der Mauer" (1965) von Dieter Popielaty vor der Berliner Matthäus-Kirche

Gemeinfrei via Wiki Commons/ Andreas Praefcke

Mehr als ein Spaziergang
Feiertag mit Dirck Ackermann
03.10.2021 - 07:05
26.08.2021
Dirck Ackermann
Über die Sendung:

Erinnerung und Gedenken hängen an Orten. Da wird Geschichte konkret und anschaulich und rückt einem noch einmal anders auf den Leib. 60 Jahre nach dem Mauerbau ist Dirck Ackermann öfter mit diesem besonderen Blick spazieren gegangen. Fast vor seiner Berliner Haustür hat er solche sprechenden Orte aufgesucht.

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Der Tag der deutschen Einheit ist für viele Menschen nach wie vor ein wichtiger Feiertag und zugleich Gedenktag. Erinnerungen werden wachgerufen und gehen oft Hand in Hand mit Dankbarkeit dafür, dass die Teilung in Deutschland und in Europa überwunden wurde.

In den vergangenen Monaten bin ich viel spazieren gegangen. Dabei habe ich Orte entdeckt, die für mich besondere Gedenkorte wurden, 60 Jahre nach dem Mauerbau.

So möchte ich Sie an diesem 3. Oktober mitnehmen auf einen Spaziergang der besonderen Art. Verschiedene Stationen, Gedenkorte, fast vor meiner Haustür in Berlin, führen uns hinein in die Geschichte, von der sie zeugen.

Ein besonderer Spaziergang also, ein im wahrsten Sinne des Wortes Nach-Gehen und Nach-Denken, auf der Suche nach dem, was Mauern und Grenzen überwinden kann.

Direkt vor unserem Haus steht eine Skulptur. Ich sehe einen Mann. Schlank, ja fast ausgemergelt ist sein Körper. Er versucht, eine Mauer zu überwinden. Die rechte Hand umklammert fast schon die andere Seite der Mauer. Doch seine linke droht noch abzurutschen. In dem Körper des Mannes ist eine letzte Kraft zu erkennen, ein letzter Wille, sich hochzuziehen und über die Mauer zu klettern. Doch seine schlaffen Beine und sein gesenkter Kopf sagen mir: Er wird es nicht schaffen. Gleich ist er mit seiner Kraft am Ende.

„Leid an der Mauer“ heißt diese Skulptur. Sie wurde drei Jahre nach dem Bau der Mauer vor dem Gemeindehaus der Matthäuskirche in Berlin-Steglitz aufgestellt. Sie sollte den Menschen immerzu vor Augen stellen, wieviel Leid dieser Schreckensbau hervorbringt.

Mir kommt ein Liedvers aus meiner Konfirmandenzeit in den Sinn: “Da sind Mauern zwischen Menschen und nur durch Gitter sehen wir uns an“. Damals vor 60 Jahren - und heute?

 

Kontroverse Diskussionen um den richtigen Weg aus der Krise. Polarisierung: Gegensätze prallen aufeinander. Kaum mehr Bemühen um Konsens und Kompromiss.

Was kann die Mauern in unseren Köpfen abtragen? Mir will das Lied aus meiner Konfirmandenzeit nicht mehr aus dem Sinn gehen. Mit Inbrunst haben wir es damals gesungen, beim Treffen der Evangelischen Jugend aus Ost und West in den 1970er Jahren. Schon damals haben wir in diesem Lied gespürt und gehofft, dass wir Mauern überwinden können.

 

Auf unserem Spaziergang zum 3. Oktober kommen wir in eine märchenhafte Anlage: Schlosspark Babelsberg. „Schlossräume unter weitem Himmel“, so die Idee der Gartenarchitekten. Und in der Tat: Ich genieße die Sonnenstrahlen und den weiten Himmel über mir. Mein Blick wandert über den See hinüber nach Potsdam. Die Nikolaikirche erstrahlt in warmen Tönen.

Ich wende mich um und blicke auf das Schloss Babelsberg. Englische Neugotik. Ein Schloss wie aus den Märchenbüchern meiner Kindheit. Genies des 19. Jahrhunderts haben es entworfen. Gebaut für Prinz Wilhelm und seine Frau Augusta. Fünfzig Jahre lang Sommerresidenz des späteren Königs- und Kaiserpaares. Und als Wilhelm I. Preußischer König war, einer der wichtigsten Schauplätze des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Preußen. Nachdem er im Januar 1871 in Versailles zum Kaiser proklamiert worden war, gewann dieser Ort noch mehr an Bedeutung. Also nicht nur märchenhaft, auch majestätisch.

Doch so märchenhaft dieser Ort auch heute ist; so kommen mir doch Zweifel, wenn ich an die Geschichte dahinter denke.

Wilhelm I, der „Kartätschenprinz“, wie er später verspottet wurde. Angeblich hatte er die Kämpfer für Demokratie in der Märzrevolution 1848 auf dem Schlossplatz in Berlin niederschießen lassen.

Später wurde er verehrt. Er hatte Deutschland geeint - durch drei Kriege.

Mir kommen Bilder von den Feiern am Sedanstag in den Sinn, dem nationalen Feiertag im Kaiserreich. Erinnerung an die Schlacht von Sedan in Nordfrankreich, an dem Streitkräfte aus deutschen Staaten die französischen entscheidend geschlagen hatten. Am Sedanstag wurde dieser Sieg gefeiert. Pompöse Militärparaden. Männer, die von Kraft nur so strotzen und siegessicher in die Zukunft blicken. Kein Blick auf die Schmerzen und Leiden, die diese Kriege hervorgebracht haben, allein in der Schlacht von Sedan über 10.000 Tote. Kein Versuch und kein Zeichen der Versöhnung mit den ehemaligen Feinden. Stattdessen Bilder von Menschen in Paradeuniformen.

Sogenannte „Einigungskriege“ – Ein Land, eine Gesellschaft durch Krieg und Gewalt geeint? Haben wir nicht die Spirale von Gewalt und Gegengewalt erlebt, die schließlich Menschen auseinanderreißt, auch die eigene Gesellschaft? Und wo bleibt die Freiheit, für die die Menschen vormals gekämpft hatten? Ein Blick in die Geschichte lehrt mich: Die Bilder des Sieges und des Triumphes halten nicht lange. Europa und Deutschland sollten in zwei Weltkriegen in Schutt und Asche gelegt werden, Millionen von Menschen ließen ihr Leben. Deutschland und Europa wurden geteilt. „Verlasst euch nicht auf Fürsten; sie sind Menschen, die können ja nicht helfen.“ (Psalm 146, Vers 3) An dieses Psalmwort muss ich dabei denken. Lass dich nicht vom majestätischen Blick täuschen.

Schloss und Park lagen während der deutschen Teilung in unmittelbarer Nähe zur Mauer. Grenzgebiet. Gar kein traumhafter Blick. Märchen sehen anders aus. Meine Träume sehen anders aus.

 

Wir gehen weiter durch den Schlosspark Babelsberg. Wir kommen an eine kleine Brücke. Sie verbindet Babelsberg mit der Wannseeinsel.

Es ist mühsam, die Brücke zu überqueren: Autos, Fahrräder und Fußgänger müssen sich den engen Raum teilen.

Auf der anderen Seite herrscht fröhliches Treiben: Menschen suchen sich ein Plätzchen, um die Herbstsonne und die frische Luft zu genießen.

Ob sie wohl ahnen, welche Tragödie sich hier einmal ereignet hat? Hinweisschilder erinnern an das Drama im Jahr 1968: Es war in einer Novembernacht. Ein Polizeischüler versucht, aus der DDR zu fliehen. Als Wachtposten war er vor der Polizeischule in Potsdam eingesetzt. Der junge Mann setzt sich von seinem Wachdienst ab, schleicht sich zur Grenze, seine Waffe behält er bei sich. An der kleinen Brücke wird er von zwei Grenzsoldaten entdeckt. Die beiden Soldaten halten den Polizeischüler für einen Abschnittsbevollmächtigten und wollen schon weiterfahren. Doch der Polizeischüler fühlt sich gestellt und schießt auf die beiden Soldaten. Es kommt zum Schusswechsel. Der Polizeischüler, aber auch ein Grenzsoldat kommen dabei ums Leben.

Menschen töten sich gegenseitig. Das ist schrecklich genug. Mir stockt der Atem, als ich weiterlese: Der getötete Grenzsoldat trug sich selbst mit Fluchtgedanken. Zwei Menschen mit einer unbändigen Sehnsucht nach Freiheit. Doch statt gemeinsam die Freiheit zu suchen, erschießen sie sich gegenseitig. Das ist kein Film. Das war grausame Wirklichkeit. Mauerregime.

Erschrocken stehe ich an diesem Ort und schüttele den Kopf. „Ich habe allen Mut verloren. Mein Herz ist öde und leer in mir“ heißt es in einem Psalm (Psalm 143, Vers 3). Und weiter: „So sehnt sich meine Seele nach dir.“ (Psalm 143, Vers 6) An diesem beklemmenden Ort sehnt sich mein Herz nach Weite.

 

Eine Dorfstraße mit Kopfsteinpflaster. An der einen Seite säumt eine kleine Au den Weg, an einer Stelle von einer kleinen Holzbrücke geschmückt. Dahinter stehen Häuser im alpenländischen Stil, Schweizer Häuser genannt. Auf der anderen Straßenseite ein Fuß- und Radweg kaum oder schlecht gepflastert, abgegrenzt von der Straße durch einen kleinen Graben. Eine Reihe von kleinen Häusern mit Gärten bis zum Wasser. Am Ende der Straße steht ein Schloss im barocken Stil, das Jagdschloss Glienicke. Es wirkt für mich nicht so imposant wie andere barocke Schlösser, eher wie die großen Gutshäuser, die ich aus meiner Heimat in Schleswig-Holstein kenne.

Ein kleines Landidyll in Stadtnähe. Die Schweizer Häuser erinnern mich an die Urlaube mit meinen Eltern in den Alpen. Heimatgefühle, nostalgische Erinnerungen, romantische Bilder. Hier ist gut sein. So dachte es auch ein preußischer Prinz im 19. Jahrhundert. Er bewohnte das Jagdschloss Glienicke und ließ die Schweizer Häuser errichten. Eine „Verherrlichung des glücklichen Landlebens“, sagt man.

Doch so unbeschwert war das Leben wohl nicht; auch später dann nicht, während der deutschen Teilung. An einem der Häuser entdecke ich eine Aufschrift „Konsum“. Also auch hier noch war Staatsgebiet der DDR.

Klein-Glienicke, so heißt der kleine Ort, war eine Exklave der DDR auf der Wannseeinsel. Als „Sondersicherheitszone“ wurde dieser Ort definiert. Sperrgebiet.

Vor 60 Jahren versperrten Mauern den Weg. Das Schloss gehörte bereits zu West-Berlin. Einige der Schweizer Häuser wurden damals abgerissen wegen der Grenzanlagen. Die versperrten dann den Blick zum Schloss. Ein eingemauerter Ort. „Blinddarm der DDR“ lästerten manche.

Wer ihn betreten oder verlassen wollte, brauchte ein Passierschein. Der musste jedes Mal abgestempelt werden. Es war kaum möglich, hier Besucher zu empfangen, geschweige denn zu beherbergen. Selbst Verwandte wurden beim Besuch von Grenzsoldaten begleitet. Wer nicht rechtzeitig zurück war, wurde mit vorgehaltener Waffe abgeholt.

Heute ein idyllisches Kleinod. Damals beengt und bedrückend. Oder beides - eingeengt und doch eine kleine Insel der Ruhe? Wie stark war die Sehnsucht nach Freiheit - oder zumindest nach den Verwandten auf der anderen Seite der Mauer?

 

Wir gehen weiter durch das Dorf, vorbei am Jagdschloss Glienicke. Schräg gegenüber eine kleine Kapelle aus rotem Backstein. Eine gotische Kirche en miniature. Hier möchte man heiraten, denke ich.

Ein kleines Schmuckstück, vor 140 Jahren von einem Schlossbaumeister namens Persius entworfen, ein Schinkelschüler. Erst wurde die Kapelle als Winterkirche von den Dorfbewohnern genutzt. Später dann lud sie die Wochenendausflügler aus Berlin zu kleinen Orgelkonzerten ein. Auch während der Teilung fanden hier noch Gottesdienste statt. Doch damit war dann 1977 Schluss. Dachdecker und Orgelbauer hatten die Lage der Kapelle direkt an der Mauer zur Flucht genutzt. Die Kapelle wurde geschlossen und verfiel zusehends.

 

Und heute: wieder ein Kleinod der Neogotik. Eine Einladung zum Verweilen, zum Gebet, zum Nachdenken, zum Danken: die Schrecken der Mauer sind vergangen. „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ (Psalm 103, Vers 2)

Nach Kopfsteinpflaster kommt nun ein asphaltierter Rad- und Fußweg - direkt dort, wo einst die Mauer stand. Ein freier Blick über die Parklandschaft hinter dem Jagdschloss, dahinter die Havel. Im Hintergrund die Glienicker Brücke, Verbindung zwischen Potsdam und Berlin. Das tragende Stahlgerüst erstrahlt im Sonnenlicht, in zwei verschiedenen Grüntönen: auf der Potsdamer Seite ein helleres Grün – fast Grau – auf der Berliner Seite dunkler. Ein kleiner Hinweis, dass hier Staaten, Systeme, ja Welten voneinander getrennt waren. Einst und heute Verbindung, jahrzehntelang die Grenze: So wurde die Brücke zu einem starken Symbol für Getrenntsein.

 

Ich denke an meine erste Reise nach Berlin in den siebziger Jahren, der obligatorische Besuch für Schüler. Damals stand ich auch an dieser Brücke. Vor uns die Havel. Ein Grenzboot mit bewaffneten Uniformierten, die uns durch Ferngläser anschauten. Dahinter wieder dieses graue Ungetüm. Erzählungen von Menschen, die die Flucht durch die Havel wagten und mit dem Leben dafür bezahlten. Alles bedrohlich und düster für mich als jungen Menschen.

An dieser Stelle merke ich besonders: Für mich hängen Erinnerung und Gedenken an Orten. Da rückt mir die Geschichte noch einmal ganz anders auf den Leib. Sie wird konkret und anschaulich. Und im Kontrast dazu sehe ich viel klarer, wie anders sich die Gegenwart darstellt.

An der Glienicker Brücke zum Beispiel: Da zeigt sich mir heute ein ganz anders Bild. Scharen von Radfahrern und Spaziergängen tummeln sich. Ein Eisstand bietet Erfrischungen an. Ein mobiler Fahrradladen hilft bei kleinen Reparaturen. Auf dem Wasser viele Boote und Schiffe, die die Brücke unterqueren. Wieder kommt mir ein Wort aus einem Psalm in den Sinn: „Gott, du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Psalm 31, Vers 9)

 

Wir gehen nun über die Glienicker Brücke. Ein kurzer Blick auf den Boden. Ein verrostetes Metallband mit der Aufschrift: „Deutsche Teilung bis 1989“ erinnert an den Ort, an dem wir uns befinden. Doch es ist wirklich nur ein kurzer Blick nach unten. Denn von hier aus hat man einen wunderbaren Rundblick: vorbei an dem majestätischen Schloss Babelsberg hinüber zum Jagdschloss Glienicke.

Was für ein Ausblick, was für eine Stimmung. Für diesen Moment sind Sorgen und Ängste gebannt. Denn dieser Weg erinnert mich daran: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18, Vers 30) Dieser starke Satz aus einem Lied der Bibel drückt für mich genau das Lebensgefühl aus, das ich am 3. Oktober 1990 empfunden habe. Ja, wir können es schaffen, wir können Mauern überwinden. Wir lassen uns von diesem Bollwerk nicht mehr abschrecken und tanzen auf ihm herum. Und heute wird mir mal wieder klar: Wie viel wir da überwunden haben. Heute kann ich diese wunderbare Landschaft ohne Angst durchwandern und genießen.

Und mehr noch: Nicht nur die Mauer, auch der eiserne Vorhang, der Europa geteilt hat, ist überwunden. Seit vielen Jahren kann ich Freundschaften nach Ost- und Mitteleuropa pflegen und mich darüber hinaus für Versöhnung und Frieden einsetzen. Ja, Versöhnung ist möglich. Ich habe das öfter erleben dürfen. Besonders eindrücklich, als ich vor fünf Jahren eine Medaille von der Tschechischen Militärseelsorge überreicht bekommen habe. Diese Medaille erinnert an den ersten tschechischen Militärgeneralvikar, der 1919 nach der Unabhängigkeit seines Landes in sein Amt eingeführt wurde. 1938 besetzte die Wehrmacht die Tschechoslowakei. Der Pfarrer wurde gefangen genommen. Später kam er in ein Konzentrationslager und wurde dort umgebracht. Als man mir als einem Deutschen diese Medaille überreicht, fließen mir die Tränen.

Ich habe es erlebt, viele haben es erlebt und können davon berichten: Verständigung und sogar Versöhnung sind möglich, über alle Schrecken der Geschichte hinweg. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“

Von diesem Lebensgefühl will ich mich weiter anstecken lassen. Dieses Vertrauen soll mich weiter tragen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. „Herr, deine Liebe“ (instrumental)
  2. Habakuk, „Halte deine Träume fest“
  3. Habakuk, „Meine engen Grenzen“
  4. Habakuk, „Da wohnt ein Sehnen“
  5. Habakuk, „Weite Räume meinen Füßen“
  6. Nils Lindgren u.a., „Ode an die Freude“ (instrumental)

 

26.08.2021
Dirck Ackermann