Sag mir, wo die Kinder sind

Jüdisches Kinder- und Landschulheim Caputh

Axel Hindemith, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de

Sag mir, wo die Kinder sind
Das jüdische Landschulheim Caputh
08.11.2020 - 07:05
08.11.2020
Hans-Dieter Rutsch und Benjamin Kuntz
Über die Sendung:

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Südwestlich von Potsdam, eingebettet zwischen Havelseen und Kiefernwäldern, liegt Caputh. Albert Einstein empfand das einstige Schifferdorf als idealen Arbeitsort. 1929 ließ er hier sein Sommerhaus errichten. Das Haus und mit ihm Caputh wurde durch seinen Besitzer zu einer weltweit bekannten Adresse. Von hier aus korrespondierte Einstein mit anderen großen Denkern seiner Zeit. Auf die Havel blickend fragt er im Sommer 1932 nachdenklich bei Sigmund Freud in Wien an:

Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?

Während Einstein schrieb, spielten auf einem großen Grundstück nebenan Kinder. Sie probten für ein Theaterstück, pflegten ihre Gemüsebeete und trainierten gemeinsam an Turngeräten. Die Pädagogin Gertrud Feiertag organisierte in ihrem jüdischen Kinder- und Landschulheim diese spielerische Form ganztägigen Lernens.

Im Sommer 1932 betreute auch Rudi Michel dieses reformpädagogische Experiment. Einstein mochte den jungen Mann. Mal traf er ihn an der Bushaltestelle, mal lud er ihn und die Kinder zu sich in sein Sommerhaus. Der Professor kümmerte sich um die bohrenden Fragen der Kinder. Eine davon: Warum fallen die Sterne nicht vom Himmel?

Rudi Michel kam mehr zufällig nach Caputh. 1994 erzählt er mir an einem langen Abend von dieser ersten Arbeitsstelle als Lehrer.

Ich war Student in Berlin und suchte irgendeine Arbeit, um etwas zu verdienen, um mein Studium zu bezahlen. Ein Freund hat mir gesagt, dass hier ein Kinderheim gegründet ist. Und die Gründerin und Leiterin sucht einen jungen Mann, um die Kinder im Sommer zu beschäftigen. Und ich fuhr hinaus und stellte mich vor bei Frau Feiertag. Also wir unterhielten uns. Wahrscheinlich gefiel ich ihr. Dann fragte sie mich am Schluss, was ich studiere. Da sagte ich, ich studiere an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Und da sagt sie: Ach, sie sind Jude? Und da sagte ich ja. Sie: Na, das macht nichts. Sie hatte so mehrere Ideale gehabt und wollte so mehr ein interkonfessionelles Heim gründen. Also auch christliche Jungen und Lehrer aufnehmen, was ihr nicht gelungen ist.

Sigmund Freuds Antwort auf die Frage Einsteins, ob Menschen das Hassen anderer Menschen ablegen können, fiel pessimistisch aus.

Freud sah „keine Aussicht auf Erfolg, die aggressiven Neigungen abschaffen zu wollen“. Es sei sogar nicht auszuschließen, dass die Zivilisation lieber ihren dunklen Instinkten folge und sich dabei selbst auslösche. Die Mehrheit wolle nicht als Pazifist leben.

In Hitlers Deutschland wurden Juden zur größten Gefahr für die Nation erklärt. Auch in Caputh kam diese Botschaft an. Hass kam unter die Einwohner und entlud sich. Das Datum: 10. November 1938. Es ist ein Donnerstag. Am Abend zuvor brannten in Deutschland mehr als 1000 Synagogen. Am Vormittag danach erhielten die Einheiten der SA und Ortsgruppen der NSDAP überall im Land den Auftrag, jüdische Einrichtungen in ihrer Nähe zu durchsuchen, um angebliche Waffenlager aufzuspüren und den angeblich drohenden Untergang des deutschen Volkes noch abzuwenden. Die Schule in Caputh erreichte dieser Auftrag mit einem ein Anruf aus der NSDAP Kreisleitung in Belzig. Mit den Juden sei nun Schluss zu machen.

Was am Vormittag des 10. November 1938 geschah, ist noch Jahrzehnte später für die Überlebende Elisabeth Rosenthal ein Alptraum.

Plötzlich hörten wir ein Klirren. Also ein Glasklirren. Hören wir auf, was ist denn das. Ich dachte, das war ein großes Tablett mit Tintenfässern. Nach diesem Klirren gingen wir alle in den Esssaal. Und da waren mehrere Klassen zusammen, mehrere Kinder und man hatte Angst. Man wusste ja nicht, was los war. Und da stand dieser Nazi - ich sehe ihn noch vor mir in seiner braunen Uniform und einem Ausdruck im Gesicht und die Stiefel und wie er so stand breitbeinig und arrogant - es war wie ein schlechter Traum.

Die Heimleiterin Gertrud Feiertag erfasste die unmittelbare Gefahr und reagierte mit ruhiger Stimme:

Lassen sie uns die kleinen Kinder raus nehmen und in Sicherheit bringen. Und sie hat das so ruhig gesagt. Er hat nicht geantwortet. Dann sagte sie: Ihr geht in eure Häuser, nehmt einen Mantel und nur was ihr tragen könnt.

Die Erzieher und Lehrer des Landschulheimes teilten die Kinder in Gruppen ein und führten sie, zum Teil durch den Wald, nach Potsdam zum Bahnhof. Von dort begann ihr langer Weg in das Exil. Nicht allen gelang die Flucht aus Deutschland. Gertrud Feiertag ermordeten die Nationalsozialisten 1943 im Konzentrationslager in Auschwitz. Alle Angebote, sie aus Deutschland auszuschleusen, hatte sie abgelehnt. Sie schenkte den Gräuelnachrichten über die Konzentrationslager lange keinerlei Glauben - bis es dann für sie selbst zu spät war.

Wie reflektierte die evangelische Gemeinde diese Gewalt in ihrem idyllischen Ort an der Havel? Geben die Kirchenakten Auskunft? Der Historiker Thomas Schaarschmidt lebt heute in Caputh.

Ich kann die Frage gleich mit NEIN beantworten. Vielleicht habe ich mir auch die falschen Sachen angeschaut. Ich bin im Kommunalarchiv gewesen und habe mir die Akten, die Protokolle des Gemeindekirchenrates und die Abkündigungen angeschaut. Dort taucht alles Mögliche auf, Fragen zu Handwerkertätigkeiten, zur Orgel für die Friedhofskapelle. Vom 9. November 1938 ist überhaupt nicht die Rede. Das ist jetzt auch nicht wirklich überraschend. Denn einmal hat es überhaupt wenig Auseinandersetzung in den Kirchen im November 1938 mit dem Vorgehen gegen Synagogen und jüdische Familien gegeben. Und wenn man bedenkt, dass der Gemeindekirchenrat in Caputh sich zusammensetzte aus Leuten, die den Deutschen Christen nahestanden - da ist nicht weiter verwunderlich, dass da keine Proteste kamen oder das Thema überhaupt nicht aufgegriffen worden ist.

Vor allem für die Kinder begann eine Zeit, die keine konkrete Zukunft kannte. Doch die Mädchen und Jungen waren auf diese Situation vorbereitet. Seit 1934 bildeten Lehrer und Erzieher sie für das Leben im Exil aus. Zum einen berichteten sie von Palästina, erteilten Unterricht in Hebräisch und Englisch. Zum anderen legten sie auf ausreichend Sport und körperliche Ertüchtigung großen Wert. Vielleicht ahnten sie, dass Kondition ein Überlebensfaktor sein würde. Ernst Reich, geboren 1922 im sächsischen Löbau, überlebt die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. 1994 erzählt er mir bei seinem Besuch in Caputh, wie wichtig der Sport im Heim für ihn war.

Und dann waren jeden Tag vier Stunden Sport. Dieser Sport hat mir praktisch das Leben gerettet. Heinz Philippsthal, Fips nannten wir ihn, das war unser Sportlehrer, bei ihm machte ich den 5000-Meter-Lauf. Ich habe dort trainiert bis zum Umfallen. Wir haben Rugby gespielt, wir haben Fußball gespielt, wir haben am Barren geturnt, wir haben ein Skullerboot gehabt mit Rollsitzen. Wir sind geschwommen - man kann sagen, bis wir nicht mehr konnten. Und dann ist ein Boot immer mit dem Fips neben uns hergefahren. Und wir haben so trainiert, dass wir nachher stahlhart waren.

Ernst Reich taucht nach seiner Caputher Schulzeit in Berlin unter. Lange ist er für die nationalsozialistischen Behörden unsichtbar. Doch bei einer Razzia auf dem Görlitzer Bahnhof in Berlin kann er nicht entfliehen. Mit dem 39. Osttransport der Berliner Juden kommt er im Sommer 1943 im Vernichtungslager Auschwitz an. Er ist jung, kräftig. Immer wieder entgeht er der tödlichen Selektion. Seine Befreiung durch die US Army erlebt er 1945 im KZ Buchenwald.

Wer von den Kindern und Lehrern aus dem Landschulheim Caputh überlebte den Holocaust? Die genauen Zahlen sind bis heute nicht ermittelt. Die Autorin Ingeborg Papenfuß recherchierte intensiv und sah: Viele Spuren führten nach England. Immer wieder reiste sie darum über den Ärmelkanal. Diese Reisen werden zu einer prägenden Erfahrung.

Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Kontakt gehabt mit Menschen, die den Holocaust erlebt haben, und war natürlich aufgeregt, wie ich empfangen werde, hatte ein bisschen Bauchschmerzen

Die erste Station: Die Lehrerin Sophie Friedländer in London.

Bei Sophie war’s überhaupt kein Problem. Ich wurde mit offenen Armen empfangen. Es war keinerlei Wand da zwischen uns. Keine Fremdheit. Wir waren auf einer Ebene. Es war sofort Vertrauen da. (Und habe dann mit ihr Gespräche geführt.)

Als Jüdin durfte Sophie Friedländer bereits 1933 in Deutschland nicht mehr an staatlichen Schulen unterrichten. Darum ging sie zu Gertrud Feiertag nach Caputh und erzählte begeistert von dieser Zeit.

Caputh war ein Wunder für sie. Ein solches Glück, weil sie alles so machen durfte, wie sie es für richtig hielt. Obwohl wir keinen Lehrplan hatten, keine Schulbücher, aber wir haben anhand der Natur, anhand der Umgebung, anhand all der Möglichkeiten, die dieser wunderschöne Ort geboten hat, unseren Unterricht entwickelt.

Die nächste Station in England: Elisabeth Rosenthal, Jahrgang 1927. Bis zum letzten Tag Schülerin in Caputh. Diese Begegnung beginnt für Ingeborg Papenfuß mit einem Spaziergang an der Themse. Zu diesem gehört eine bittere Nachricht. Elisabeth erzählt: Aus ihrer großen Familie wurden über 90 Angehörige von den Nazis ermordet.

Und da war ich so erschlagen und so erschrocken und wusste in dem Moment nicht, wie ich reagieren sollte und habe in meinem Schreck gesagt: Aber meine Eltern waren keine Nazis. Da fiel die Kinnlade runter. Und dann war eine eisige Kälte zwischen uns. Ich glaube, das war das dümmste und blödeste, was ich überhaupt sagen konnte. Denn in Deutschland gab es ja nach der Nazizeit keine Nazis mehr. Und da war sie so empört und wütend, und irgendwie haben wir uns dann beruhigt und sind zu ihr in die Wohnung gegangen und haben dann das Interview angefangen. Das war sehr schwierig. Ich muss sagen, das war das aufwühlendste Interview, das ich je in meinem Leben geführt habe. Ich musste danach wirklich weinen.

Von vielen Caputher Schülerinnen und Schülern fehlt noch heute jede Spur. Eine entdeckte der Medizinhistoriker Benjamin Kuntz eher zufällig, als er an einer Biografie über den berühmten jüdischen Kinderarzt Gustav Tugendreich arbeitete.

Bei meinen Recherchen stieß ich im Internet auf einen Artikel, den 2006 ein gewisser Tom Tugend in der Zeitschrift „Berlin aktuell“ geschrieben hatte. Und in diesem Artikel berichtete Tom Tugend über seine Kindheit in Berlin und dass sein Vater der berühmte Kinderarzt Gustav Tugendreich gewesen wäre. Ich war natürlich sofort fasziniert und habe versucht herauszufinden, ob dieser Tom noch lebt. Ich fand ihn dann auch durch eine Internetrecherche, habe Kontakt zu ihm aufgenommen, er antwortete mir per Mail, er lud mich dann auch ein und so bin ich dann im Oktober 2018 nach Los Angeles geflogen.

In Los Angeles erzählt Tom Tugend, wie er seinen deutschen Namen – Thomas Tugendreich – bei der Einbürgerung in die USA ändern ließ. Von seiner Kindheit in Deutschland ist ihm gerade die Zeit in Caputh in besonders schöner Erinnerung geblieben. Er genoss dort die Freiheit, das Zusammenleben in der Gemeinschaft und die vielfältigen Angebote, mit denen die Kreativität der Kinder gefördert wurde. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt ihn als Zehnjährigen beim Theaterspiel.

Wir führten ein Theaterstück auf. Da ich einer der Kleinsten war und die höchste Stimme hatte, bekam ich die Rolle der Thisbe in Shakespeares Sommernachtstraum. Ich trug eine Perücke aus Stroh mit langen Zöpfen als eine Art jüdische Brunhilde, und einer von den anderen sagte zu mir: „Du wirst Thisbe spielen, das Objekt der Begierde“. Und ich sagte mit hoher, piepsender Stimme: „Lass mich doch nicht eine Weiberrolle spielen, ich kriege doch schon einen Bart“ und das Publikum kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein...[lacht]...der Höhepunkt meiner Theaterkarriere... [lacht]“

Die Schulleiterin Gertrud Feiertag mietete 1933 Albert Einsteins Sommerhaus für die immer größer werdende Zahl der ihr anvertrauten Kinder an. Der Nobelpreisträger selbst lebte bereits im amerikanischen Exil. Fast zwei Jahre erhielt der kleine Thomas Tugendreich Unterricht auf Einsteins Terrasse und erledigte seine Schularbeiten dort, wo kurz zuvor noch der große Physiker gearbeitet hatte. Im Sommer 2019 kehrt Tom, inzwischen 94 Jahre alt, zusammen mit seiner Tochter Alina noch einmal an den Ort seiner Kindheit zurück.

Der Empfang, der uns in Caputh bereitet wurde, die Journalisten, die da waren, und das Gespräch mit Susan Neiman (der Direktorin des Einstein Forums), das war natürlich unglaublich. Ich bin mir nicht sicher, welche Erinnerungen bei meinem Vater wach wurden. Vieles hat sich ja in all den Jahren einfach sehr verändert. Ich glaube, er hat in seinem Kopf versucht, das aktuelle Bild in 2019 mit seinen Erinnerungen aus den 1930er Jahren in Einklang zu bringen. Beispielsweise als wir in einem Raum im Einsteinhaus waren, da sagte er: „Hier waren glaube ich unsere Betten, hier haben wir geschlafen“.

Sommer 2020 in Berlin. Eine neue und spannende Spur. Sie führt überraschend zu jenen Briefen, die Einstein von Caputh aus an Sigmund Freud und europäische Regierungschefs schrieb. Ich lerne den Israeli Ohad Stolarz kennen. Er ist der Enkel von Rudi Michel – jenes Mannes, der im Sommer 1932 in Caputh mit den Kindern des Landschulheimes Albert Einstein besuchte und Ende 1934 nach Palästina emigrierte.

Ich bin Ohad Stolarz. Ich bin aus Israel. Seit 2013 lebe ich mit meiner Frau in Berlin. Allerdings habe ich in meiner Kindheit oder durch meine Erziehung nicht besonders viel von Berlin erfahren. Gegen Ende 1934, als Einstein in Princeton in den USA war, kam die Bitte durch die Verwandten von Herrn Einstein, dass die Nachbarn, nämlich die Mitarbeiterinnen der Schule in Caputh Briefe aus dem Einsteinhaus vernichten - aus Angst vor den Nazis. Das haben sie auch getan. Allerdings hat damals mein Großvater einige Briefe gerettet. Nämlich einen von Sigmund Freud, einen von Masaryk, dem damaligen Präsidenten der Tschechoslowakei und zwei Briefe von der Königin in Belgien - Elisabeth. Die vier Briefe hat mein Großvater gerettet und später mit nach Palästina genommen und in die Einstein-Sammlung in Jerusalem gespendet.

Von jenen, die das jüdische Landschulheim in Caputh 1938 verwüsteten und die jüdischen Kinder gewaltsam vertrieben, lebt heute niemand mehr. Nach und nach finden die heutigen Einwohner des Dorfes die Kraft, die Schuld ihrer Vorfahren als Verantwortung anzunehmen. Vor dem ehemaligen Heim setzten sie einen Stolperstein für die von den Nazis ermordete Gertrud Feiertag und ernennen diese ungewöhnliche Frau 2021 postum zu ihrer Ehrenbürgerin. Eine in der evangelischen Kirche gezeigte Ausstellung existiert und kann ausgeliehen werden. Jugendliche aus Caputh und Potsdam sammeln inzwischen Dokumente für ein Online-Archiv. All das steht für eine große Bitte: Vergesst nicht, Euch zu erinnern.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Aderonke Ariyo, Let it sink in, Album: Piano Minimalism Vol I
  2. Inga Rumpf, Alice D. Own Voiceland, Album: Vintage Electronica
  3. Marc Enfroy, Pondering, Album: Intimate Felt Piano
  4. Robert J Etoll, Tender Solitude, Album: Sparse & Subtle Setups
  5. Jean-Michel Vallet, Claire Michael, Patrick, The Projectionist, Album: The Projectionist
  6. Ron James, Pathos, Album: Mythos Pathos Ethos
  7. Erneste Bloch, Prayer, Album: Jan Vogler ‚My Tunes‘
08.11.2020
Hans-Dieter Rutsch und Benjamin Kuntz