Ambivalenter Lärm

Gemeinfrei via Unsplash/ Cas Holmes

Ambivalenter Lärm
Gedanken zur Woche von Pastor Matthias Viertel
09.06.2023 - 06:35
27.01.2023
Matthias Viertel
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Selig sind, die Frieden stiften (Mt 5,9). So klar lehrt Jesus seine Jünger in der Bergpredigt. Die meisten in der Bibel nachgezeichneten Personen sind aber äußerst ambivalente Gestalten. Petrus etwa leugnet seinen Glauben als es ernst wird. Und schlägt einem Knecht das Ohr mit dem Schwert ab. Auch die Geschichten um Moses, Jakob und David schildern Persönlichkeiten, die nicht durchweg als Vorbild taugen. Hin- und hergerissen sind sie, von widersprüchlichen Gefühlen geleitet. Nicht immer treffen sie die richtigen Entscheidungen.

Ambivalenz ist schwer auszuhalten. Sie bringt die Seele in Unordnung. Ambivalenz erlebe ich, wenn ich das, was um mich herum geschieht, nicht mehr eindeutig zuordnen kann. Wenn gleichzeitig ‚beides gilt‘, dann ist mein Urteilsvermögen irritiert, und ich weiß nicht mehr, wie ich mich dazu verhalten soll. Im inneren Konflikt kann das ganze moralische Koordinatensystem versagen.

Die meisten Menschen kennen diese Erfahrung. Im Alltag muss ich immer wieder mit solchem diffusen Gemisch aus widersprüchlichen Einstellungen umgehen. Meistens gelingt es, etwas System in diese Unordnung zu bringen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat es eine christliche Friedensethik besonders schwer. Und in diesen Tagen wird die Ambivalenz der Gefühle noch viel stärker: dann, wenn die Angst vor dem Krieg auf einmal direkt sichtbar und spürbar wird.

In dieser Woche hat auf der Ostsee ein großes Manöver begonnen. 50 Kriegsschiffe aus 20 Ländern, ein gewaltiges Aufgebot, es zeigt die Bündnisstärke der NATO. Und ab Montag beginnt „Air Defender“, ein Manöver der Luftwaffe. Es probt den Ernstfall am Himmel über Deutschland. Ein Szenario ist der fiktive Angriff auf den Rostocker Hafen. Das Manöver ist die größte Übung dieser Art der NATO (1), mehr als 250 Flugzeuge sind daran beteiligt: Düsenjäger, die von Kiel bis Osnabrück, zwischen Stralsund und Chemnitz, Augsburg und Trier fliegen. Das Manöver der Marine beeinträchtigt vielleicht die Segler auf der Ostsee und Touristen an den Stränden wundern sich. „Air Defender“ wird deutliche Auswirkungen haben. Nicht nur weil die Flugzeuge Lärm verursachen, sondern auch, weil das Manöver den zivilen Flugverkehr beeinträchtigt. Es müssen Verspätungen einkalkuliert werden, der Luftraum wird zumindest teilweise gesperrt.

Selig sind, die Frieden stiften. Und hier wird die ganze Kriegsmaschinerie spürbar, unüberhörbar. Auch wenn es nur eine Übung ist: der Krieg rückt damit noch näher. Der Angriffskrieg auf die Ukraine war bisher mit seinen Auswirkungen nur mittelbar zu erleben. Jetzt viel direkter, als sinnliche Erfahrung. Er kollidiert mit dem Bedürfnis nach Ruhe, Erholung und Urlaub. Und auch aus anderen Gründen ist Kritik berechtigt: Manöver dieser Art sind Klimakiller, sie verbrauchen Unmengen an Treibstoff. Die Aufrüstung verbraucht Milliarden, die woanders dringend gebraucht werden. Und vor allem die Frage, ob die Präsentation von militärischer Stärke nicht die Spirale der Eskalation noch antreibt. Friedensgruppen rufen zu Demonstrationen auf und fordern anstelle des Manövers das Erarbeiten von diplomatischen Lösungen (2).

Da kann die Seele durchaus in Unordnung geraten: Selig sind, die Frieden stiften. Wie soll ich mich verhalten, wie soll ich entscheiden? Der Aufmarsch einer so großen Kriegsmaschinerie kann nicht gut sein. Aber vielleicht ist er wichtig, um das Elend des Krieges nicht noch zu vergrößern. Um Putin von weiteren Angriffen abzuhalten. Menschen sind Konfliktwesen, sie lassen sich nicht immer nur von der Vernunft leiten. Auch das verdeutlichen mir die biblischen Geschichten. Personen wie Moses, David und Petrus sind ambivalent gezeichnet, sie zeigen: Manchmal gibt es keinen eindeutig richtigen Weg, dann müssen die Widersprüche ausgehalten werden; dann muss ich den bedrohlichen Lärm der Kampfflieger am Himmel tolerieren, obwohl das kaum die Begleitmusik zu Jesu Bergpredigt sein kann. Und ich viel lieber in den Urlaub fliegen und den Krieg am liebsten vergessen möchte.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur dieser Sendung:

  1. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/air-defender-laender-lockern-fuer-militaeruebung-zivile-nachtflugverbote-a-482cac67-2a40-4356-a7ba-67bb1eb90b31
  2. epd Zentralausgabe, 5.6.2023

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Matthias Viertel