Beredtes Schweigen

The crowd kneels at the Black Lives Matter protest in Washington DC 6/6/2020

Gemeinfrei via unsplash.com/Clay Banks (The crowd kneels at the Black Lives Matter protest in Washington DC 6/6/2020)

The crowd kneels at the Black Lives Matter protest in Washington DC 6/6/2020

Beredtes Schweigen
Gedanken zur Woche mit Pfarrer Peter Oldenbruch
12.06.2020 - 06:35
03.01.2020
Peter Oldenbruch
Über die Sendung

Schweigen und Knieen. 8 Minuten und 46 Sekunden lang. Das ist stärker als physische Gewalt. Das sind seelische Stärke und humane Würde gegen rassistische Gewalt. Die Gedanken zur Woche von Pfr. Peter Oldenbruch.

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Schweigen hat Goldwert.

Oft ist es auch beredt.

Fische zum Beispiel sind zwar stumm, schweigen jedoch können sie nicht.

„Schweigen kann allein, wer sprechen könnte.“ (1)

Noah zum Beispiel schweigt. Lange, sehr lange.

Gott kündigt ihm an, Menschen und Erde zu verderben.

Und Noah schweigt.

Gott befiehlt, die Arche zu bauen, Noah schweigt.

Gott kündigt die Flut an, aus der allein seine Familie und die Tiere in der Arche gerettet werden.

Noah schweigt auch dazu.

 „Ist womöglich Noahs Schweigen eines, das Gott die Zustimmung zur vernichtenden Flut verweigert?“ (2)

Dann wäre Noahs Schweigen ein widerständiges Schweigen und Noah ein geheimer Rebell, der sich gegen Gottes Vernichtungswillen stemmt.

Gott will die Menschen auf der Erde vertilgen, weil „der Menschen Bosheit groß war…“.

Aus genau dem gleichen Grund entscheidet er sich sieben Wochen später um.

Und spricht: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen.

Vielleicht hatte bereits Noahs Schweigen Goldwert.

 

Auf der ersten Trauerfeier für George Floyd wurde auch geredet, natürlich.

Es wurde aber auch geschwiegen.

Genau acht Minuten und 46 Sekunden lang.

Das ist die Zeit, die George Floyd am Boden gepresst lag, das Knie eines Polizisten in seinem Nacken.

 

In dieser Woche gingen weltweit Hunderttausende auf die Straße.

Und dabei wurde geredet und geschrien,

immer wieder aber auch geschwiegen,

acht Minuten und 46 Sekunden lang.

Und: Hunderttausende knieten für den getöteten George Floyd,

darunter auch Polizisten.

 

Eine demütige Geste.

Fast 9 Minuten lang schweigen und dabei auf die Knie gehen

das erscheint mir aussagekräftiger als viele Worte.

Unter anderem weil die Menschen, an die so appelliert wird,

nicht von einer Meinung überzeugt werden sollen.

Wer sich das Schweigen und Knien anschaut,

muss nicht hören, was andere sagen und zustimmen oder ablehnen,

muss nicht diskutieren, nicht widersprechen.

Wer sich mit dem Schweigen und Knien auseinandersetzt, muss selbst denken,

neun Minuten lang selbst bedenken, was Sache ist.

 

Diese Form des Protests steht in der Tradition

des gewaltlosen Widerstands von Martin Luther King.

Der bekannte 1963, er habe einen Traum.

Eines Tages, träumte er, sitzen die Söhne früherer Sklaven

und die Söhne vormaliger Sklavenbesitzer am Tisch der Bruderschaft.

In einer Nation, in der sie nicht wegen ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden.

Dieser berühmte Traum

- mit Gewalt lässt er sich nicht wahr machen.

Dazu kann man niemanden zwingen, er ist eine Einladung an die Gegner,

Feindschaft zu beenden.

 

Der 43jährige Jurist und Bürgerrechtler Hawk Newsome,

in der Kirche groß geworden, dachte Jahrzehnte lang auch so.

Nur gewaltfrei könne man etwas verändern.

Heute sieht er das anders.

Er freut sich nicht, dass der Polizist, der auf dem Nacken von Floyd kniete,

wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wird.

Das war in vielen, vielen anderen Fällen genauso.

Täter werden angeklagt und schließlich freigesprochen.

„Ein Muster, das sich überall im Land hundertfach wiederfindet“ (3).

Amerika habe nur vor einer einzigen Sache Respekt und das sei Macht.

Und solange die Schwarzen die nicht besäßen, würden sie nie frei sein.

Hawk Newsome ist es leid, nett zu sein.

Ich kann Newsome seine Enttäuschung nicht verdenken

und auch seine Wut nicht

- ein halbes Jahrhundert nach Martin Luther King.

 

Und doch: diese beiden zentralen Elemente des gegenwärtigen Protestes,

das Schweigen und das Knien

- strahlen etwas aus, das stärker ist als physische Gewalt:

seelische Stärke und humane Würde.

Neben vielem anderen sind es diese beiden Gesten, glaube ich,

die so viele Menschen weltweit bewegen, bei den Demonstrationen für Menschenwürde mitzumachen.

Demütiges, widerständiges Schweigen gegen sinnlose rassistische Gewalt.

Vielen der Akteure wird gar nicht bewusst sein,

dass sie in der Tradition der Feindesliebe Jesu stehen, auf die sich Martin Luther King berief.

Stark. Und Goldwert. Damit das Leben auf der Erde ein Segen ist.

 

Gedanken zur Woche… auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“!

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturnachweise:

  1. Jürgen Ebach, Beredtes Schweigen, Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten, Gütersloh 2014, 13
  2. a.a.O., 19
  3. DIE ZEIT Nr. 24 vom 4. Juni 2020, Politik, 3

Weitere Infos

03.01.2020
Peter Oldenbruch