Die Chance, zu überzeugen

Gedanken zur Woche

Gemeinfrei via unsplash.com (Andrian Valeanu)

Die Chance, zu überzeugen
Zum Mitgliederschwund der Kirchen
26.07.2019 - 06:35
27.06.2019
Jörg Machel
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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„Jesus hat das Gottesreich verkündigt, gekommen ist die Kirche.“ Der kritische Priester Alfred Loisy, der das im Jahr 1902 sagte, wurde später exkommuniziert. Heute wird in der Regel nicht mehr exkommuniziert, heute gehen die Leute ganz von allein. Sie tun das im ökumenischen Gleichschritt. Etwa gleich viele Christen verlassen die katholische und die evangelische Kirche in jedem Jahr und auch die Wellenbewegung der Austritte verläuft ziemlich synchron.

Das macht es schwer, Erklärungen zu finden. Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche schlägt auch auf die evangelische Kirche durch; und wenn ein evangelischer Pastor sich öffentlich für Flüchtlinge einsetzt, kann das auch einen Katholiken provozieren, mit „der Kirche“ zu brechen.

„Was können die Kirchen gegen den Mitgliederschwund tun?“, so fragt der Berliner Tagesspiegel angesichts der Kirchenaustritte, die im vergangenen Jahr dramatisch hoch ausfielen. Darauf gibt es, aus meiner Sicht, eine institutionelle und eine inhaltliche Antwort.

Die institutionelle betrifft die Kirchensteuer. Es bedarf einer starken kulturellen oder emotionalen Bindung, um die monatliche Abbuchung auf dem Gehaltszettel zu akzeptieren. Beide schwinden. Eine überwiegend spendenbasierte Kirchenfinanzierung würde allerdings zum Zusammenbruch vieler gesellschaftlicher Strukturen führen, an dem selbst Kirchenskeptiker nicht interessiert sein können.

Mich selbst überzeugt das Modell einer „Kultursteuer“, die alle Steuerzahler zu entrichten hätten, bei der sie aber selbst bestimmen würden, wohin das Geld fließt. Das könnten Kirchen, Moscheen, Synagogen sein, aber auch Konzerthäuser, Theater oder Museen. Für die Kirchenkassen würde das zunächst sicher herbe Verluste bedeuten, langfristig aber hätten Gemeinden eine Chance, durch ihr Engagement zu überzeugen, auch Kirchenferne übrigens.

Inhaltlich sollten sich die Kirchen auf Alfred Loisy besinnen und seine mittlerweile längst unbestrittene Einsicht beherzigen, dass Jesus das Gottesreich im Blick hatte, nicht die Kirche.

Ich bin in der evangelischen Kirche der DDR sozialisiert. Die Gemeinden waren lächerlich klein. Aber sie waren Orte, an denen Demokratie gelebt wurde, wo man frei redete, wo man nicht nur religiöse und kirchliche Bücher las, sondern auch Max Frisch und Albert Camus zum Beispiel.

Und obwohl diese Kirche so unscheinbar war, wussten die Menschen im Herbst 1989: Die Kirchen sind Orte, an denen man sich treffen kann, wo man politisch unabhängig ist, wo keine Scharfmacher sitzen. „Kerzen statt Steine“ war eine Parole, die am Kirchenportal glaubhaft wirkte.

Dabei meine ich nun nicht, dass nur eine geschrumpfte Kirche eine wahrhaftige Kirche sein kann. Hätten wir im Osten nicht die starken Schwesterkirchen im Westen gehabt, dann hätte es die Orte, an denen sich die friedliche Revolution formierte, vielleicht schon gar nicht mehr gegeben.

Mir ist nur wichtig, dass Kirche nicht um sich selber kreist. Christen überzeugen, wenn sie das Salz in der Suppe des Lebens sind, so wie Jesus es verlangt und versprochen hat.

Dass Kirche mit ihrer Forderung nach „Bewahrung der Schöpfung“ in der Klimadebatte kaum noch wahrgenommen wird, sollte uns zu denken geben; dass die Diakonie als großer Arbeitgeber keine Lohn- und Finanzierungsmodelle liefert, die den börsennotierten Pflegekonzernen Paroli bieten, das muss uns beschämen. Hier sind Energie und Ideen gefragt.

Kirche hat Zukunft, aber nicht dadurch, dass Bürgergemeinde und Christengemeinde wieder identisch werden, sondern indem sie lebt und nachvollziehbar weitergibt, was ihr geschenkt wurde: Glaube, Liebe und Hoffnung.

 

Wenn Sie über das Modell einer Kultursteuer oder die inhaltliche Ausrichtung der Kirchen mitdiskutieren wollen, können Sie das tun. Auf Facebook unter: „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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27.06.2019
Jörg Machel