Keine Zukunft ohne Wahrheit

Gemeinfrei via unsplash/ Michael Carruth

Keine Zukunft ohne Wahrheit
Gedanken zur Woche mit Jörg Machel
07.01.2022 - 06:35
06.01.2022
Jörg Machel
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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„Wer zurückschaut, stolpert über die Steine, die vor ihm liegen.“ Ein Sprichwort, das es in vielen Sprachen zu geben scheint, und das dem Start ins neue Jahr eine gefährliche Richtung geben könnte. 

Vor zwei Wochen wurde in Hongkong die „Säule der Schande“ demontiert, China ist die Erinnerung an die Opfer des Tian`anmen-Massakers von 1989 ein Dorn im Auge. Man will nicht erinnert werden. In Russland wurde zum Jahresende die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ verboten, die die Verbrechen des Stalinismus anprangert. Die Auseinandersetzung mit der Unrechtsgeschichte genügte offenbar, um von den gegenwärtigen Eliten als Gefahr angesehen zu werden.

Es herrscht die Einstellung: Wer zurückschaut, schwächt sich selbst. Nur Heldentaten sollen erinnert werden, der Rest wird ausgeblendet. China feiert sich für die Erfolge in der Pandemiebekämpfung, den Wirtschaftsboom und denkt an die olympischen Spiele. Es lobt sein autoritäres Herrschaftsmodell als effektiv und beispielhaft. Russland zelebriert alljährlich den Sieg über Nazideutschland und feiert sich für die Einverleibung der Krim. Millionen hingemordete Menschen unter Mao und Stalin sollen vergessen gemacht werden.

Ist es also falsch, sich mit der dunklen Seite der eigenen Geschichte zu befassen? Schwächt der selbstkritische Blick die eigene Position? Ist die Suche nach der historischen Wahrheit wirklich so gefährlich?

Als zum Jahreswechsel vor dreißig Jahren das Stasiunterlagengesetz in Kraft trat, gab es ernstzunehmende Bedenken. Wird die Öffnung der Archive zu Mord und Totschlag führen? Wie wird das sein, wenn man in seiner Akte nachliest, dass der Kollege, die Nachbarin, der Ehepartner einen bespitzelt hat? Und ja, es gab Tragödien und Zerwürfnisse, als die Wahrheit ans Licht kam. Lynchjustiz gab es nicht. Und inzwischen gibt es viel Zustimmung zu der damaligen Entscheidung.

Wie schwer sich auch die Kirchen mit der Aufarbeitung ihrer Verbrechen tun, wird nicht nur beim Thema des sexuellen Missbrauchs sichtbar. Auch der christliche Antijudaismus, die Verfolgung von Andersgläubigen und eine koloniale Missionspraxis gehören zu den dunklen Kapiteln der Kirchengeschichte, die immer noch nicht hinreichend aufgearbeitet sind.

Ich bin überzeugt: nur der kritische Blick auf das, was war und das was ist, macht fähig für die Herausforderungen der Zukunft. Und deshalb ist es mir wichtig, auch auf das zu schauen, wovor ich selbst lieber die Augen verschließen würde. Allerdings will ich mich auch einmischen dürfen, wenn ich in anderen Ländern auf Lüge und Geschichtsfälschung stoße -  so wie es dazugehört, dass man auf uns schaut und unser Handeln kritisch hinterfragt.

Insofern finde ich es angemessen, dass die Schändung muslimischer Gräber auf dem Iserlohner Hauptfriedhof nicht nur vor Ort eine Welle der Solidarität ausgelöst hat, sondern auch zu Reaktionen im Ausland führte. Man schaut auf uns. Man fragt: Wie gehen wir in Deutschland mit Menschen anderen Glaubens, anderer Herkunft um? Haben sie gleiche Rechte, bekommen sie den angemessenen staatlichen Schutz? Sind sie uns willkommen?

Und diese Fragen müssen wir uns sogar von denen gefallen lassen, die in ihren eigenen Ländern auf die Menschenrechte pfeifen. Das Recht Menschlichkeit einzufordern hat jeder. Weil der Respekt vor der Würde des Menschen universell gilt. Aus meiner DDR-Biografie weiß ich: die Forderung nach Nichteinmischung dient vor allem dazu, innerstaatliche Debatten abzuwürgen.

Beim Erinnern und Mahnen geht es entscheidend darum: aussprechen, was ist! Und dabei vertraue ich der Verheißung aus dem Johannesevangelium (8,32): erst die Erkenntnis der Wahrheit wird uns frei machen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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06.01.2022
Jörg Machel