Mut

Gedanken zur Woche

Jana Shnipelson via unsplash

Mut
Aufstehen gegen den großen Angstmacher
21.08.2020 - 06:35
20.08.2020
Jörg Machel
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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In der Nacht zum 21. August 1968 endete der „Prager Frühling“. Eine halbe Million Soldaten aus den Warschauer Pakt-Staaten marschierten in die Tschechoslowakei ein. Ich war gerade sechzehn geworden und hatte große Hoffnungen mit dem demokratischen Aufbruch im Nachbarland verbunden.

In meiner Schule in Frankfurt an der Oder mussten wir uns anhören, dass der Einmarsch einem Angriff der Nato zuvorkam. Ich wusste, das war eine Lüge. Ich schwieg. Ich hatte Angst.

 

„Wie kommt ihr dazu, euch vor Menschen zu fürchten, die doch sterben müssen, die vergänglich sind wie Gras?“ Ein Satz aus der Bibel, mehr als zweieinhalb Jahrtausende alt und doch so kraftvoll, aufrüttelnd, ermutigend! Ein Satz gegen die Angst, diesen elenden Kleinmacher.

 

Heute, am 21. August 2020, schaue ich nach Belarus, nach Weißrussland. Und ich sehe, was passiert, wenn die Angst der Menschen abfällt und sie plötzlich auszusprechen wagen, was tatsächlich ist.

In Belarus haben hunderttausende Menschen ihre antrainierte Angst überwunden und stehen auf gegen den großen Angstmacher und seine Vasallen. Viele sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Nach menschlichem Ermessen sind sie naiv. Der Gegner hat Waffen, Gerichte, Gefängnisse – alle Machtmittel liegen in seinen Händen.

Doch die Zeit des Wegduckens ist vorbei. Die Wahlfälschung ist offensichtlich, die Machthaber haben auch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Mit jedem Wutausbruch wird Lukaschenko lächerlicher und selbst Anhänger beginnen zu begreifen, wie schwach dieser Mann in Wirklichkeit ist.

 

Die Angst zu überwinden, heißt allerdings noch nicht, die Freiheit auch schon zu erlangen. Diktaturen können langlebig sein, zumal wenn sie sich mit anderen Gewaltherrschern verbinden, um sich gegenseitig zu stützen. Doch eine solche Art der „Bruderhilfe“ macht die Beteiligten nur noch unglaubwürdiger.

 

Für mich war die Freiheitsvision des „Prager Frühlings“ mit dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten nicht ausgeträumt. Immer, wenn irgendwo in der Welt eine Diktatur ins Wanken gerät, egal ob in Venezuela, im Iran oder in Belarus, sehe ich in die angstfreien Gesichter von Menschen, die ihre Zukunft endlich selbst gestalten wollen.

Mich berühren die Bilder, auf denen Demonstrantinnen in Minsk mit Blumen um das Verständnis der Soldaten werben, obwohl sie jederzeit mit neuen Prügelattacken rechnen müssen.

Ich habe die Bilder der Jubelfeier für Lukaschenko gesehen. Auch unter diesen Teilnehmern gab es sicher Menschen, die sich für mutig hielten, jetzt noch zu ihrem Idol zu stehen.

Wirklich mutig fand ich allerdings nur einen: den Mann in Uniform, der vor diesem zusammengekarrten Forum den Wahlbetrug offen ansprach, welcher die Massenproteste auslöste.

Auf einer Betriebsversammlung offenbarten sich Leute, wie sie in der Wahlkabine abgestimmt hatten. Nur wenige heben die Hand für den noch amtierenden Präsidenten. Die überwältigende Mehrheit aber bekennt sich zur Opposition. Das Video dieser Abstimmung ging um die Welt.

 

Es ist nicht ausgemacht, wie sich die Lage in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird. Von den Kirchen erwarten die Menschen in Weißrussland eine klare Haltung. Mit diesen Worten des Propheten Jesaja könnten sie die Demonstranten ermutigen:

 

„Wie kommt ihr dazu, euch vor Menschen zu fürchten, die doch sterben müssen, die vergänglich sind wie Gras? Vergesst doch nicht, wer euch geschaffen hat. Es ist derselbe, der Himmel und Erde gemacht hat. Warum zittert ihr dann immerzu vor dem Zorn eurer Unterdrücker? Lasst sie wüten, soviel sie wollen – was können sie euch anhaben.“ (Jesaja 51,12+13 Gute Nachricht Bibel)

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20.08.2020
Jörg Machel