Nicht richten

Gedanken zur Woche

Gemeinfrei via unsplash.com/Khadeeja Yasser

Nicht richten
Die öffentliche Meinung und ihre Versuchung
26.06.2020 - 06:35
03.01.2020
Ulrike Greim
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Vielleicht liegt es daran, dass viele Leute Zeit haben, im Internet surfen und sich echauffieren. Und dass gerade generell der Puls etwas höher ist.

Die Empörungsindustrie läuft wieder auf Hochtouren. Mal zu Recht, mal zu Unrecht. Finde ich.

Unhaltbare Zustände hier, unhaltbare Kommentierung da. Üble Meinung hier, üble Satire da. Man könnte den ganzen Tag vor diesem Internet sitzen und sich aufregen, wenn es etwas bringen würde.

Die öffentliche Meinung ist eine Diva. Wem gelingt es, sie zu erobern? Aufmerksamkeit ist ihre Währung, Aufregung ihr Lohn. Je schriller die Stimme, desto besser.

Sie ist immer auf dem aktuellen Stand. Sie ist immer bestens informiert. Sie schaut immer direkt in die Kamera. Ihre Lippen sind grellrot.

Sie entscheidet, wer aktuell oben ist und wer auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.

Das eine wie das andere geht ganz schnell.

Philipp Amthor auf dem Weg nach ganz oben, Amthor im Sinkflug.

Black lives matter endlich auf der Straße und die rassistischen Polizisten am Pranger.

Polizisten in einer Kolumne auf dem Müll, die Kolumnistin wird verbal die Klippen heruntergestürzt.

Die Erregung: Ein Opferkult an den Gott des Adrenalins. Soll helfen gegen Ratlosigkeit.

Herr Jesus – so darf das nicht weitergehen!

 

Und Jesus: sitzt da und malt in den Sand. (Johannesevangelium 8, 2-10)

 

Es werden gerade viele Menschen mit Schlag-Worten gesteinigt.

Aber wessen Geschäft ist es tatsächlich, zu richten?

Unser aller? O ja – gern. Ich ereifere mich, also bin ich.

Es werden täglich hunderte rote Linien überschritten. Um welche sollen wir uns zuerst kümmern?

Die öffentliche Meinung ist eine willkürliche Diva, sie kümmert sich, wie es ihr gefällt. Sie nimmt sich, wen sie gerade braucht.

Und das Internet ist ein Dorf. Wir alle wohnen Tür an Tür.

 

Man hört sie schon von weitem. Sie diskutieren erbittert und aggressiv, manche johlen. Als sie die Straße hochkommen, gehen die Fenster auf. Die Leute wollen wissen, was los ist. Sie sehen: Sie haben diese Frau. Verstrubbelte Haare, das Kleid leicht geöffnet. Na, das wollen sie sehen, was jetzt passiert. Endlich mal eine erwischt.

Mir wird heiß. Ich sitze mit den anderen am Dorfanger. Sie kommen zu uns. Zwei haben ganz rote Köpfe. Einer hat sich einen dicken Stock geschnappt. Ein anderer wischt sich den Geifer aus dem Mundwinkel.

Sie stoßen die Frau in unsere Mitte. „Hier“. Zutiefst beschämt steht sie vor uns.

„Wir sind doch nicht das Jüngste Gericht“, flüstert einer von uns.

„Was wollt ihr?“

„Wir haben sie auf frischer Tat ertappt.“

Die Geschichte, die jetzt kommt, betrifft zwei Familien im Dorf. Soviel Druck auf dem Kessel.

Wir schauen betreten zu Boden. ‚Was wollen die? Dass wir mitmachen? Den Stock nehmen und losschlagen? Oder sie gleich hinter uns über die Klippen werfen?

Es ist doch klar, dass diese Frau hier nie wieder ein Bein auf den Boden bekommt, was immer wir jetzt sagen.‘

Wir schweigen. Malen in den Sand.

„Hallo! Aufwachen! Dies ist ein echter Fall. Darüber müsst ihr berichten. Das müsst ihr im Radio sagen. Das ist es, was die Leute wirklich interessiert.“

Wir schütteln den Kopf.

„Jesus würde sagen: Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ sagt einer leise.

Paradoxe Intervention. Die Leute sind verblüfft.

Die ersten drehen sich um und gehen. Heute wohl kein Spektakel.

„Ach ja – eurem Jesus sind die Gesetze egal, oder was?“

Nein. Er ist sonnenklar. Er lebt das Gesetz.

Und deswegen ist auch klar: Kein Mensch gehört auf den Müll. Und kein Mensch gehört gesteinigt – weil niemand da ist, der in der Position wäre, zu steinigen.

Die nächsten vier gehen. Verärgert, verwirrt. Kurzes Schweigen, Fußscharren.

Als wir wieder aufschauen, steht nur noch sie da – die Frau mit den großen Augen.

Einer sagt, wieder zitierend, „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“.

 

Es ist Sommer. Lasst uns am Dorfanger sitzen und in den Sand malen. Und schweigen. Bis die wirklich wichtigen Themen hochkommen. Und siehe da: Die führen uns zusammen. Und uns gemeinsam in die Weite.

 

Oder nicht? Reagieren Sie gerne - auf facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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03.01.2020
Ulrike Greim