"Nie wieder!" reicht nicht

Gedanken zur Woche

Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin (Bild: unsplash.com/Luca Rüegg)

Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin (Bild: unsplash.com/Luca Rüegg)

"Nie wieder!" reicht nicht
Zum Nein gegen Antisemitismus gehört christliche Selbstkritik
18.10.2019 - 06:35
27.06.2019
Martin Vorländer
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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In meiner Stadt Frankfurt am Main gab es am Alten Brückenturm ein Wandgemälde aus dem Mittelalter. Es war bis zum Abriss des Brückenturms 1801 eine touristische Attraktion. Der Name des Gemäldes war ebenso schrecklich wie sein Inhalt: die Frankfurter „Judensau“. Es zeigte einen Rabbiner, der verkehrt herum auf einer Sau reitet. Unter dem Bauch des Tieres saugt ein junger Jude an den Zitzen. Hinter der Sau: der Teufel und eine auf einem Ziegenbock reitende Jüdin.

Solche widerlichen Darstellungen gab und gibt es an Kirchen in Erfurt, Magdeburg, in der Lutherstadt Wittenberg und in Köln, am Regensburger und am Bamberger Dom. Die jahrhundertealte Botschaft dieser Bilder ist klar: Der intime Umgang mit dem im Judentum unreinen Schwein verhöhnt und demütigt. Das ist der mittelalterliche Vorläufer des Antisemitismus.

„Nie wieder!“ Nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle letzte Woche haben das viele gesagt. Zu Recht. Aber „Nie wieder!“ rufen reicht nicht. Wir müssen dem Antisemitismus im Alltag entgegentreten. Der fängt manchmal klein und scheinbar harmlos an.

Ein jüdischer Bekannter war am vergangenen Samstag, am Schabbat, auf dem Weg zur Synagoge. Ein junger Mann auf der Straße spricht ihn auf seine Kippa an. Ob die Kopfbedeckung etwas bedeutet? „Ja! Ich bin Jude.“ „Oh“, sagt der junge Mann, „die Juden sind clever und geschäftstüchtig.“ „Was für ein Unsinn!“, erwidert mein jüdischer Bekannter. Der junge Mann insistiert: „Doch, glaub‘ mir, die sind clever und geschäftstüchtig.“

Nein, das ist kein Kompliment. Das ist Alltags-Antisemitismus. Ein solches Schubladisieren und Diffamieren betreiben mitunter auch Christen. Immer wieder sagen Menschen in der Kirche, das Alte Testament fänden sie schwierig. Da würden doch nur Geschichten von Krieg und Rache drinstehen. Im Neuen Testament dagegen gehe es um Liebe und Frieden. Das ist falsch. Der Gott der Liebe kommt im Alten wie im Neuen Testament vor. Das Gebot der Nächstenliebe halten viele für das christliche Gebot schlechthin. Dabei steht es im Alten Testament, also in der Heiligen Schrift der Jüdinnen und Juden. Jesus greift es auf. Kein Wunder – Jesus war selbst Jude.

Anhaltspunkte für ein hässlich verzerrtes Bild von Juden gibt es leider bereits im Neuen Testament. Im Johannesevangelium werden Juden „Kinder des Teufels“ genannt (Johannes 8,44). Sie sind Symbolfiguren für die finstere Welt, die Jesus und sein Wort nicht aufnimmt. Auch die Pharisäer kommen im Neuen Testament nicht gut weg. Sie erscheinen als notorisch böse, obwohl sie damals in Israel beliebte, fromme Menschen waren, die den jüdischen Glauben bewahrt und weitergegeben haben.

Aber bei uns steht das Wort „Pharisäer“ für scheinheilig. Ein Getränk, das „Pharisäer“ heißt, verbirgt im Kaffee mit viel Schlagsahne eine gehörige Portion Rum. Das schmeckt zwar köstlich, sagt aber auch etwas aus über das, was man mit einem Pharisäer verbindet: einer, der innen brandgefährlich ist und nach außen hin harmlos tut. Christen haben dieses böse Bild von Juden geprägt.

Eine tödliche Zuspitzung der Diskriminierung von Juden durch Christen ist die Bezeichnung „Gottesmörder“. Bis ins 20. Jahrhundert hinein spukte durch die Kirchengeschichte der Vorwurf, Juden hätten Christus ans Kreuz geschlagen. Christen haben sich viel zu spät bewusst gemacht, dass sie durch solche Denk- und Redeweisen Judenhass und Antisemitismus geschürt haben. Zum „Nie wieder!“ und zum „Nein gegen Antisemitismus!“ gehört christliche Selbstkritik. Und deutliche Zeichen dafür, dass Christen wissen, aus welcher Quelle ihr Glaube schöpft, nämlich aus dem Judentum. Ein solches Zeichen setzen gerade die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland und das katholische Bistum Erfurt. Sie schenken der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen eine neue, von Hand geschriebene Thora-Rolle. Die Thora, das sind die ersten fünf Bücher Mose, die Juden besonders heilig sind und die auch Christen zu ihrer Bibel zählen.

 

Wie reagieren Sie auf Antisemitismus? Schreiben Sie mir auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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27.06.2019
Martin Vorländer