Abgehängt

Morgenandacht
Abgehängt
23.07.2020 - 06:35
25.06.2020
Angelika Obert
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Einigermaßen fit musst du sein, um Schritt halten zu können. In der Schule, im Beruf – im Leben überhaupt. Wer richtig fit ist, kommt vorne an. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. So bin ich also gestraft, wenn ich zu den Langsamen gehöre, die nicht so ganz Schritt halten können mit den andern. Dann bin ich nicht richtig im Leben. Habe ich überhaupt ein Leben? Oder bleibt mir nichts anderes übrig, als den andern beim Rennen zuzugucken? Außen vor zu sein? Mich einzurichten im Nicht-Leben? Die Fitten sehen das vielleicht so: Wenn ich nicht mitkomme, dann bin ich eben abgehängt, ein Versorgungsfall. In den Geschichten von Jesus wird es anders erzählt: Leben, wird da gesagt, bedeutet nicht, Schritt halten zu können im vorgegebenen Tempo. Leben bedeutet aber doch: die eigenen Schritte zu tun.

 

So wird im Johannesevangelium berichtet von einem, der schon seit Ewigkeiten nicht mithalten kann. Für ihn war es wohl schon immer so, schon, als er noch ganz klein war. Er war immer der Letzte. Er erinnert sich an einen Sommertag, sie wollten schwimmen gehen am Fluss. Ja, er wollte das auch, aber dann fand er die Badehose nicht. Die anderen Kinder riefen nach ihm. „Gleich!“ rief er zurück. Aber dann fiel ihm beim Suchen noch was anderes ein und als er endlich runterkam, waren die andern alle weg. Also blieb er sitzen vor der Tür und wartete und wartete. Stundenlang, bis die andern wiederkamen. Abgehängt – ja, er erinnert sich, wie sich das damals anfühlte: so wie ganz allein auf der Welt, unwirklich.

 

Sie hängten ihn dann noch oft ab. Auch als er älter wurde, blieb er der Langsame, der nichts rechtzeitig auf die Reihe kriegte. Er stand noch in der zweiten Ackerfurche, wenn die andern ihr Soll längst erfüllt hatten und zum Essen gingen. Immer wieder wurde er ermahnt: Endlich schneller zu machen. „Reiß dich zusammen!“ - wie oft kriegte er das zu hören! Aber er wusste nicht, wie das geht, sich zusammenreißen. Das ewige Geschimpfe lähmte ihn nur noch mehr. Je mehr sie ihn antrieben, um so träger wurde er.

 

Eines Abends, als er mal wieder allein auf weiter Flur stand, durchzuckte ihn ein heftiger Krampf. Er fiel hin und kam einfach nicht mehr hoch. Jetzt musste er nicht mehr arbeiten. Nie mehr, denn die Beine blieben steif. Man brachte ihn in eine therapeutische Einrichtung. Wiedereingliederung war das Ziel: Die Klienten dort sollten lernen, sich zu beeilen. Es waren Viele, die sich in fünf Hallen um einen See mit heilkräftigem Wasser sammelten. Aber geheilt wurden immer nur diejenigen, die als erste in den See gelangten. Dann, wenn er in Bewegung geriet. Anfangs machte er ein paar Versuche, kroch nach vorn, um einen guten Startplatz zu haben und ließ sich in den See plumpsen, wenn das Wasser zu rauschen begann. Aber der erste war er nie. Und so ließ er die Mühe bald bleiben. Richtete sich ein in den hinteren Reihen und verlegte sich aufs Zuschauen. Wie die andern es schafften, hatte er bald raus. Sie hatten ihre Leute, die ihnen den Weg freihielten und die Konkurrenz behinderten. Sowas kam für ihn nicht in Frage. Er war ja der Abgehängte. Wen sollte er denn fragen? So blieb er da liegen am See, Jahr um Jahr – arbeitsunfähig, krankgeschrieben, zum Zugucken bestimmt. Ab und zu führte er bittere Selbstgespräche, aber wirklich unzufrieden war er gar nicht. Er kannte es ja nicht anders. Er war immer noch der kleine Junge, der auf der Türschwelle saß und wartete, dass jemand käme.

 

„Willst du gesund werden?“ fragte ihn der, der schließlich kam. Was für eine Frage! Die hatte sich der Mann noch nie gestellt. Er war doch nun schon 38 Jahre außen vor. „Ich kann doch gar nicht gesund werden!“ beschied er den Fragenden, „ich bin zu langsam.“

 

Aber die Frage selbst – von Jesus gestellt – brach den Bann. Er musste da nicht liegen bleiben, wo alle um die Wette krochen. Musste sich nicht in der Menge aufhalten, die ihn zum Verlierer bestimmt hatte. Er konnte eine andere Richtung wählen, sein eigenes Ziel suchen, sein Leben.

25.06.2020
Angelika Obert