Abstand, bitte

Morgenandacht
Abstand, bitte
09.04.2016 - 06:35
27.12.2015
Evamaria Bohle

Fußballfans brauchen Platz. Auch akustisch. Und wer samstags als Unbeteiligter in so einen Fan-Pulk gerät, etwa in der S-Bahn, braucht starke Nerven. Wenn es gut geht, ist der Waggon gefüllt mit gespannter Vorfreude oder Siegesglück. Schwieriger ist es, wenn Aggression und Enttäuschung dazu kommen. Sehr viel Energie, sehr viel Testosteron. Wenn man Pech hat, sehr viel Alkohol.

 

Der Sound des Fußballs ist das Grölen. Für alle, die mitmachen, ein großer Spaß. Das Stadion, einer der wenigen Orte im öffentlichen Raum, in dem noch gesungen wird. Ein robuster Gesang für sensible Ohren, aber doch Gesang. Männerseelen schwingen in Männerkehlen. Bässe und Tenöre überwiegen, viele Knabenstimmen, auch Frauen und Mädchen sind dabei. Man brüllt sich die Seele aus dem Hals und abends ist man heiser. Im Fangesang entlädt sich Leidenschaft und Gruppenlust. Kampfgeist. Pure Emotion. Nur manchmal wird das Spiel zur Schlacht. Das Grölen bei einigen zum Johlen. Dann hat die Polizei alle Hände voll zu tun und der Spaß ein Ende.

 

Ich gebe zu, ich war noch nie zu einem Spiel in einem Fußballstadion. Es ist mir zu voll und zu laut. Ich wäre immer latent im Fluchtmodus. Menschenmassen per se sind mir eher unheimlich. Seien es Demonstrationen oder Rockkonzerte, Großgottesdienste oder das Public Viewing am Brandenburger Tor. Veranstaltungen, in denen ich im Pulk einer Menschenmenge eingezwängt stehe, die gleichzeitig dasselbe tut, ruft oder in dieselbe Richtung geht, meide ich. Wenn ich nicht entkommen kann, suche ich mental den Notausgang. Dieses Mitgerissen- und Mitgeschoben werden, dieses Mitklatschen, wenn alle klatschen, Mitskandieren, wenn alle skandieren: Ich spüre den Sog und etwas in mir sagt: „Stopp!“ und „Nimm Abstand.“

 

Möglicherweise wurzelt dieser Wunsch nach Abstand in Erfahrungen meiner Eltern. Sie mussten in ihrer Jugend an politischen Massenveranstaltungen teilnehmen. Sie erlagen der Faszination des Gleichschritts, der kollektiven Begeisterung. Nach dem glücklicherweise verlorenen Krieg begannen sie zu verstehen, wie sehr das politische System ihre Begeisterungsfähigkeit missbraucht hatte. Die empfundene Freude beim gemeinsamen Singen, das feierliche Gefühl bei Fahnenappell und die Lust Dazuzugehören – alles war vergiftet, enttarnt als manipulatives Schmierentheater eines Systems, das Millionen in den Tod getrieben hatte. Das Vertrauen meiner Eltern in Autoritäten oder in die Massen, die solchen Autoritäten zujubeln, war nachhaltig gestört. Sie hatten feine Antennen für die Macht der Manipulation. Nie wieder so getäuscht werden.

 

Nun sind ein Fußballspiel oder ein Rockkonzert oder eine Comedyshow im Stadion kein Reichsparteitag. Ich weiß das und will niemandem den Spaß verderben. Aber trotzdem werbe ich dafür, immer wieder Abstand zu nehmen, der Überzeugungsmacht der Vielen nicht zu trauen. Schon gar nicht ihrem Jubel. Immer wieder zu prüfen, was tue ich hier eigentlich? Was rufe ich? Was singe ich? Und: Wer hat etwas davon, dass ich rufe und jubele? Zwischen Vergnügen und Verführung zu unterscheiden ist eine Kunst, die eingeübt werden will.

 

Für den unbeteiligten Beobachter, der Abstand einnimmt, wirken die Vorgänge im Stadion oder vor der Kundgebungsbühne einer Großdemonstration nämlich ähnlich. Laute, aufgedrehte Menschen, gelenkte Aufmerksamkeit, das Fühlen in Kategorien von Freund und Feind. Schlachtrufe, Lieder, Applaus. Es brodelt eine enorme Kraft, wo Menschenmassen sich sammeln. Menschenmassen haben Macht. Schon kleinere Ansammlungen von Gleichgesinnten können eine Menge Energie freisetzen. Die Frage ist, wozu wird diese genutzt? Zum Grölen und Händeklatschen? Zum Skandieren und Fäuste recken? Zum Johlen und zuschlagen? Ist es eher Hosianna oder doch Kreuziget ihn?

 

Wenn es um mich zu laut wird, wünsche ich mir oft Stille. Schweigen, um hören zu können, was wichtig ist: Den Atem meiner Lieben. Das Lachen eines Kindes. Und – ganz nah – das Lied der Engel: „Fürchtet euch nicht!“, singen sie.

27.12.2015
Evamaria Bohle