Advent in der Wüste

Morgenandacht
Advent in der Wüste
23.12.2019 - 06:35
18.07.2019
Heidrun Dörken
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„Advent, das ist für mich Warten in der Wüste.“ So hat es meine Freundin Mara gesagt, da war sie schon über 90 Jahre alt.

Advent und Wüste, das hat miteinander zu tun. Die Wüste, von der Mara mir erzählt hat, war aus Eis und Schnee, minus 30, manchmal minus 40 Grad. Sibirien. Dorthin war sie vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt worden, verhaftet in Berlin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Jemand hatte sie denunziert, sie würde Spionage betreiben. Ohne Prozess wurde sie über Oranienburg und Moskau in ein Arbeitslager nach Sibirien transportiert. Zehn Jahre hat sie unter schlimmsten Bedingungen überlebt. Erst Ende der fünfziger Jahre kam sie als sogenannte Spätheimkehrerin über Friedland nach Frankfurt am Main. Und erst in den neunziger Jahren hat die damalige russische Regierung die Anschuldigungen der Stalin-Zeit für nichtig erklärt und sie und andere rehabilitiert.

An die Advents- und Weihnachtszeit im Lager hatte Mara die eindrücklichsten Erinnerungen. An die Sehnsucht und ihr Warten. Heimlich sammelten sie und ihre Mitgefangenen über Wochen die wenigen Gramm der Zuckerration. Mit zermahlenen Brotkanten formten sie daraus eine Art Stollen. Kerzen konnten sie nicht anzünden, die dürftigen Wachsreste sparten sie für ein einziges Licht am Weihnachtsabend. Nachts setzten sich die Frauen zusammen, die meisten kamen aus Deutschland und der Ukraine. Niemand konnte ihnen ihre Wurzeln nehmen, aus denen sie ihre Hoffnung schöpften und sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig trösteten. Lieder und biblische Geschichten trugen sie aus der Erinnerung zusammen. Unvergessen das alte Adventslied: „O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“

Mara hat mir davon erzählt: Wie sie angefangen hat zu hoffen. Sie hat diese Hoffnung als etwas Lebendiges empfunden. In aussichtsloser Situation ist sie stark und lebendig geworden. Kein Gedanke, der wieder verfliegt. Hoffnung ist geboren worden, sie war lebensfähig und kraftvoll.

Von solcher Hoffnung haben die Propheten der Bibel gesprochen, von Jesaja bis zu Johannes dem Täufer. Sie haben oft selbst in der Wüste gelebt, zeitweise sogar freiwillig. Ihre Botschaft: Gott kommt gerade in die Wüsten des Lebens, in unruhige Zeiten. Zu Traurigen und Enttäuschten. Gerade da bringt Gott Frieden. Er wird Mensch, einer von uns. Darauf zu warten und zu hoffen ist der Kern des Advents.

Auch als sie später warm und sicher lebte, fand Mara diese Erfahrung kostbar. Sie wurde sehr alt und war bis zuletzt gesellig mit ihren Nachbarn im Mietshochhaus, in der Kirchengemeinde und mit den Freundinnen, die noch lebten. Doch im Advent, und schon gar nicht an Weihnachten, konnte niemand sie mit einer noch so freundlichen Einladung locken. Sie wollte allein und in der Stille sein, warten und feiern. Sie hat gesagt: In den Tagen vor und an Weihnachten brauche ich das unbedingt. Für andere mag es richtig sein, aber mich lenkt zu viel Jingle Bells ab. Und sie sagte: Wüsten gibt es auch hier und heute.

Ich weiß, sie dachte dabei ganz konkret an unschuldig Gefangene heute. Wie in einer Wüste empfand sie es auch, wenn jemand keine Erwartungen oder Hoffnungen hat. Wenn nichts mehr hinter dem Horizont ersehnt wird, weil scheinbar alles da ist.

Heute geht der Advent zu Ende, und ich denke an Mara, die erfahren hat: Die Wüste ist der Ort der Verlassenheit. Und gleichzeitig ist sie dort Gott begegnet. Sie weiß: Hoffnung wird geboren.

 

 

Ein literarisches Porträt der Sängerin und UFA-Schauspielerin Mara Jakisch (1905-2005), mit der ich befreundet war die letzten zehn Jahre ihres Lebens, und einem weiteren Gefangenen des Stalinismus, Dietrich Hübner, ist der Roman von Susanne Schädlich: „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“, 2014 Droemer/Knaur

„O Heiland, reiß die Himmel auf“ Evangelisches Gesangbuch Nr. 7

Das Bild von der Hoffnung als Lebewesen stammt aus der Bibel: 1. Petrus 1,3

 

Es gilt das gesprochene Wort.

18.07.2019
Heidrun Dörken