Das leise Recht, das den Schwachen schützt

Morgenandacht
Das leise Recht, das den Schwachen schützt
17.11.2018 - 06:35
13.09.2018
Melitta Müller-Hansen
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Er hatte das alles mitgemacht: die Vertreibung aus seiner geliebten Stadt. Den Versuch, in der Fremde sich häuslich einzurichten. Ja, man hatte Häuser gebaut und Kinder gezeugt. Man hatte die Geschäfte in der Fremde wiederaufgebaut. Ja, man betrieb Handel mit Getreide, Oliven, Wein und Öl. Die Handwerker und Baumeister hatten ihr Gewerbe jetzt hier. Doch das Heimweh blieb. Und das Gefühl, das nur diejenigen kennen, die zu einer Minderheit gehören inmitten einer großen Mehrheit, die anders tickt, anders spricht, anders glaubt, anders betet, sich anders kleidet.

 

Der Prophet Jesaja gehörte zur Minderheit der jüdischen Elite, die nach Babel verschleppt worden war, durch Nebukadnezar, den Herrscher des babylonischen Großreiches am Euphrat. Wer Jesajas Texte liest, wird vorsichtig mit der Forderung nach Integration oder gar Assimilation. Es sei doch ganz einfach: wenn man in ein fremdes Land einwandert, müsse man einfach so leben wollen wie die Mehrheit in diesem Land. Das sei nur gerecht.

 

So kann man argumentieren, wenn man noch nie zerrissen leben musste zwischen zwei Welten. Wenn man noch nie weggegangen ist aus einem Land in ein anderes, aus einer Kultur in eine andere und eine Identität dazwischen entwickeln musste: du gehörst nicht mehr dorthin, wo du herkommst und auch nicht dorthin, wo du jetzt lebst. Du hast Heimweh, ein rückwärtsgewandtes Heimweh, wie ein Loch im Herzen. Und du willst hier dazugehören, doch zugleich das bewahren, wo du herkommst. Me two – ich bin zwei. Das ist die Formel dieser Identität dazwischen. Ich kenne sie auch. Und ich habe mit der Zeit einen großen Reichtum entdeckt. Du kennst zwei Welten. Und – du hast der neuen Welt, in der du lebst, etwas zu geben, was sie noch nicht hat und noch nicht kennt.

 

Der Prophet, Jesaja, hat das aufgeschrieben, in poetische Worte gefasst. Er spricht nicht von Assimilation. Er erzählt von der Veränderung der Menschen im Exil und von dem, was sie Neues zu geben haben dem Einwanderungsland, ja, der ganzen Welt. Er ist der Zeuge einer vielschichtigen Veränderung des Glaubens an Jahwe, den Gott Israels. Dieser Gott, der bis dato allein seinem Volk gehörte, wird hier in der Fremde neu buchstabiert: Schöpfer des Himmels und der Erde, so nennen ihn plötzlich die Israeliten in der Fremde. Und sie sagen: er ist gegenwärtig und erfahrbar durch das Recht.

 

Schaut, diesen Menschen in meinem Dienst:

An dieser Person halte ich fest, sie habe ich erwählt,

an ihr habe ich Gefallen gefunden.

Ich habe meine Geistkraft auf sie gegeben,

Recht soll sie zu den Völkern hinausbringen.

Sie schreit nicht, sie ruft nicht laut,

sie lässt ihre Stimme draußen nicht hören.

Das geknickte Rohr zerbricht sie nicht, und den glimmenden Docht löscht sie nicht aus,

zuverlässig bringt sie das Recht hinaus.

Sie wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis Recht auf der Erde gesprochen wird.

(Jes 42, 1-4, Bibel in gerechter Sprache)

 

Dieses Recht hat leise Töne. Formuliert aus einer Position der Schwäche, der Minderheit, aus einer Erfahrung des Andersseins.

Es ist nicht das Recht, andere zu unterdrücken oder zu dominieren: Unterlegene, Abhängige, Frauen.

Es ist das Recht, das die Ohnmächtigen schützt.

 

Das, was schon angeknackst ist, soll nicht abgebrochen werden. Und das, was schon ausgebrannt und fast erloschen ist, soll nicht ausgeknipst werden.

 

Die gebrochenen Menschen nicht noch mehr quälen, die ausgebrannten, die in ihrem Inneren verbrannte Erde haben, nicht gänzlich erlöschen lassen.

 

Das Lebensrecht des Unterlegenen: Das Recht des Schwachen.

 

Man muss sich selbst bewusst dafür entscheiden. Auch Staaten, die es in ihre Gesetzgebung einschreiben. Und eine Kirche, die es glaubhaft lebt. Das geknickte Rohr nicht zerbrechen. Den glimmenden Docht nicht auslöschen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.09.2018
Melitta Müller-Hansen