Das Lob der Unmündigen

Morgenandacht
Das Lob der Unmündigen
05.03.2019 - 06:35
03.01.2019
Ulrike Greim
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Diese Typen sind mir eine Anfechtung! Wie sie dastehen, fröhlich, ohne Tasche und ohne Eile. Sie sind einfach da. Keine Last drückt, keine Etikette steht ihnen je im Wege, Kleidervorschriften kennen sie nur von ferne. Sind ein bisschen ungepflegt, selbst wenn hoher Besuch kommt. Die Strubbelhaare notdürftig zur Seite gekämmt. In Sandalen und weißen Tennissocken, ausgebeulten Hosen und Nuddel-Sacko. Sie kennen die Regeln einfach nicht. Kein Wunder, dass sie sie nicht beachten. Sie stören meine Kreise. Den gewohnten Ablauf. Ich schäme mich fremd.

 

Andererseits: Das ist genau ihre Gabe. Dieses Unkonventionelle. Weil sie so auch mit den Unkonventionellen gut arbeiten können. Mit denen, die nicht in die etablierten Kreise passen. Und es sind derer viele. Immer, wenn ich mich zu ihnen setze, merke ich, wie viel Weisheit in eben dieser Einfachheit steckt. Und ich sehne mich danach.

 

W. zum Beispiel war in der offenen Arbeit tätig, jahrzehntelang. Er war da, wenn die Punks ankamen und einen Platz suchten, an dem sie einfach sein können. Betrunken oder nüchtern. Er hat sie sein lassen, wie sie sind. Sich hin und wieder zu ihnen gesetzt, ein bisschen gequatscht. Und manchmal auch ein bisschen getröstet. Er hat eine Wohnung vermittelt, mit der Polizei geredet und geholfen, Konflikte nicht so heiß zu kochen. Zu DDR-Zeiten hat er Ausreisewillige begleitet, auch mal Leute versteckt. Häufig war er der Typ Herz am rechten Fleck. Einer, bei dem man klingeln kann auch nachts um halb drei.

Um die großen Zusammenhänge hat er sich nicht so geschert. Aber oft in Diskussionen genau den Punkt getroffen. Dann wieder öfter nicht.
Als er mal ein größeres Projekt leiten sollte, ist er baden gegangen. Ein Diplomat war nicht an ihm verloren gegangen.
Das tat mir für ihn leid. Aber anders als andere, hat er es gelassen genommen. ‚Hat eben nicht geklappt. Leben geht weiter.’
Ich hab’ ihn ins Herz geschlossen.
Und gedacht: Wenn Jesus sich wieder unters Volk mischt: Er guckt erst bei W. rein, bevor er – falls überhaupt – in die angestrengteren Sehen-und-gesehen-werden-Kreise kommt.

 

Solche wie W. sind Narren um Christi willen. Das sind die, auf denen ein besonderer Segen ruht. Die Randständigen. Die, die den Ablauf stören, die dem Bild die Perfektion nehmen.

Und dadurch auch den Heiligenschein, den das Leben aber nun mal nicht hat. Keiner ahnt das, bis einen das Schicksal mal kurz aus der Bahn schubst. Die Koordinaten verwirrt. Den Teppich entzieht. Dann stehst du barfuß auf Beton und überlegst, wer dir Schuhe borgen könnte. Und wenn du gehst, um den zu suchen, fällt dir auf, wie langsam du vorankommst, und wie stechend kalt es an den Füßen ist. Und dann siehst du, wer alles an dir vorbeibraust im dicken Auto. Und nicht grüßt und nicht anhält. Und wer noch alles barfuß geht.

Erst wenn du draußen stehst, siehst du, wer noch alles vor der Tür hockt. Demotiviert, verletzt. Und wer dir vorher nicht aufgefallen wäre. Und plötzlich grüßt du vorsichtiger. Und du hast Zeit, dich dazuzusetzen. Auf den Bordstein. Einfach so.

Und triffst: Menschen mit einer psychischen Störung zum Beispiel, wie man so schön sagt. Weil sie stören. Komische Dinge sagen. Die vielleicht auf einer tieferen Ebene wahr sind, wenn man es decodieren kann.

Und es ist verwirrend, zuzuhören. Und sonderbar. Und logisch.
Dann kommt W.. „Du? Hier?“ „Ja, ich hier.“ „Na komm rein.“
Und alles ist gut. Tee, Brötchen, pappig, aber was soll’s. Und ein paar Scherze. Und ein paar Kekse. Und Schuhe. Und ein Telefonat.
Und der Ausflug an den Rand der Welt ist beendet.

 

Und ich zu Hause in der Badewanne denke dann: Narren? Wer ist hier der Narr?

Und ich schäme mich. Diesmal für mich selbst. Gott der Unmündigen: Es ist mir eine Anfechtung, dass du die geistlich Armen liebst. Und die Verirrten. Aber mein verirrtes Herz kennt sonst keinen Ort, außer dir. Mach aus mir eine Närrin. Damit ich weise werde.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2019
Ulrike Greim