Der Sündenbock

Morgenandacht
Der Sündenbock
22.08.2019 - 06:35
13.06.2019
Stephan Krebs
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Ein Tier breitet sich aus auf der Welt, zumindest in Europa und Amerika. Es ist gefährlich und zugleich gefährdet. Dieses Tier hat eine bemerkenswerte Eigenschaft: Je weiter weg es ist, desto größer wirkt es. Je näher man ihm kommt, desto kleiner wird es. Wenn man dieses Tier schließlich aus der Nähe betrachtet, dann fragt man sich: Was ist daran eigentlich so gefährlich?

Die Rede ist vom Sündenbock. Was es damit auf sich hat, beschreibt die Bibel im dritten Buch Mose. Dort geht es um ein altes jüdisches Ritual zum Jom Kippur Tag, also zum Tag der Versöhnung mit Gott. An diesem Tag wurden in alter Zeit zwei Ziegenböcke zum Tempel gebracht. Eines schlachteten die Priester als Opfer für Gott. Dem anderen legten sie die Hände auf den Kopf, zählten alle Verfehlungen und Sünden des Volkes Israel auf und luden damit das alles dem Ziegenbock auf. Dann jagten sie diesen Sündenbock in die Wüste hinaus. Ein Ritual, mit dem sich die Israeliten vor Gott entlasteten.

Sündenböcke gibt es heute immer noch. Inzwischen ist aus ihnen allerdings ein gruppenpsychologischer Effekt geworden. Den wenden Menschen an, wenn sie Probleme, Ängste und Sorgen haben, die ihnen zu groß erscheinen. Oder deren Lösung ihnen zu viel Mühe machen würde. Zum Beispiel Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben. Dann sind oft die Lehrer schuld. Aber alle Lehrerinnen und Lehrer – das wären zu viele auf einmal. Da nimmt man sich besser einen heraus. Meist trifft es die Person, die am schwächsten erscheint. Die kann man am leichtesten in die Wüste schicken. Dann wird alles besser, so denken die Eltern. Zum gruppenpsychologischen Effekt dieses Sündenbock-Rituals gehört, dass man sich danach tatsächlich besser fühlen kann. Zumindest für eine Weile. Aber dann kehren die altbekannten Probleme wieder zurück. Sie sind ja nicht gelöst, nur fortgejagt für einen Moment.

Auf diese Weise entlasten sich derzeit viele von Problemen, die ihnen zu groß erscheinen. Die politischen Spannungen steigen. In vielen Städten ist der Wohnraum knapp. Viele fürchten den sozialen Abstieg. Wer ist daran schuld? Man selber? Eine unangenehme Vorstellung. Die Gesellschaft? Gerne. Aber die ist zu groß. Die Politiker? Wirtschaftsbosse? Immer wieder gerne genommen. Aber die braucht man ja auch und außerdem erscheinen sie zu mächtig. Also am besten eine andere Bevölkerungsgruppe. Eine, die sich schlecht wehren kann, weil sie zu klein und zu schwach ist. Der kann man die die Schuld an der ganzen Misere aufladen. Und dann weg mit ihr. Derzeit bevorzugte Sündenböcke sind die Geflüchteten. Die kann man verachten, hassen und wegschicken, ohne dass das eigene Leben gefährdet wird. Dumm nur: Das löst kein einziges Problem. Denn Wohnungsnot, sozialer Abstieg, Umverteilung von Wohlstand von unten nach oben, Kriminalität – das alles gab es schon, lange bevor in Deutschland Flüchtlinge zum großen Thema wurden.

Ich plädiere dafür näher heranzugehen und hinzuschauen. Dann stellt man fest: Diese angeblichen Sündenböcke sind Menschen. Ganz normale: nette dabei und weniger nette. Fleißige und Faule.

Wenn die biblischen Israeliten ihre Sündenböcke in die Wüste trieben, dann wussten sie: „Wir vollziehen ein religiöses Ritual. Eigentlich geht es dabei um unsere eigenen Sünden. Das Tier kann dafür nichts.“ Diejenigen, die heute Sündenböcke jagen, sehen das anders: Sie halten diese tatsächlich für schuldig. Das ist fatal, denn so schädigen sie andere Menschen.

Deshalb ist der Sündenbock ein gefährdetes Tier, denn er büßt für etwas, das er nicht zu verantworten hat und auch nicht wirklich tragen kann. Zugleich ist der Sündenbock ein gefährliches Tier, denn es verführt dazu, Probleme nur für kurze Zeit aus dem Blickfeld zu jagen, statt sie wirklich zu lösen.

 

Bibelnachweis: 3.Buch Mose (Levitikus) 16,1-28

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Stephan Krebs