Die ganze Wahrheit

Morgenandacht
Die ganze Wahrheit
25.07.2020 - 06:35
25.06.2020
Angelika Obert
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„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ - so steht es in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Sehr idealistisch. Wie wenige gibt es, die in diesem Sinn gesund sind? Viele aber wohl, die nach ihrem vollständigen, persönlichen Wohlergehen suchen und viel dafür tun. Der Traum vom rundum starken, wohlbefindlichen Menschen, er geistert ja unter uns.

 

Auch die Bibel kennt die Hoffnung auf ein Ende allen Leids – auf das Reich Gottes, das kommt. Aber mit den perfekten Menschen rechnet sie nicht. Nicht mit vollständiger Gesundheit. Wenn sie von Heilung spricht, geht es immer darum, dass auch die Schwäche angenommen werden darf. Dass Menschen nicht ausgesondert und abgestempelt werden, dass sie alle, wie sie sind, zu sich stehen können. Heilung ist dann eine Sache des richtigen Miteinanders vielmehr als eine Sache der gesunden Lebensführung. Um Nähe geht es, die befreit und um Ermutigung. Niemand soll sich seiner Schwäche schämen müssen.

 

So wird zum Beispiel von der blutflüssigen Frau erzählt, die nach damaligen Vorstellungen eine sehr peinliche Krankheit hatte, mit der sie nicht unter die Leute gehen durfte. Verhuscht stelle ich sie mir vor, ängstlich wohl schon immer. Ein Mädchen, das meistens übersehen wurde. „Ich muss dankbar sein, wenn sich überhaupt jemand für mich interessiert. Muss alles geben, muss glücklich machen“, so dachte sie wohl. Vielleicht wirkte sie gerade darum sehr besitzergreifend und wurde am Ende immer wieder enttäuscht. So kam die Krankheit, dieser Blutfluss und mit ihm das Gefühl, sich innerlich aufzulösen, keine Kontur zu haben. Die Frau wurde zur Arztbesucherin und erwartete Zuwendung nur noch vom Doktor, den sie für seine Bemühungen gut bezahlte.

Jesus konnte sie nicht bezahlen, das wusste sie. Zu Jesus konnte sie auch nicht gehen. Mit ihrer Krankheit musste sie sich ja fernhalten von der Menge und es war immer eine Menge um Jesus.

 

Aber sie weiß ja, dass man sie leicht übersieht. So macht sie, was sie schon oft getan hat: Sie schleicht sich von hinten heran, kommt Jesus nah und spürt wohl: So berühmt dieser Heiler auch ist, sie muss keine Angst vor ihm haben. Wie von selbst tun ihre Hände, wonach sie verlangen: Sie strecken sich nach ihm aus, suchen die Berührung. Und sie merkt, wie sie das verändert: Sie spürt sich wieder – ohne Scham, ohne Ekel. Was für ein Wunder!

 

Und nun bloß schnell weg, denkt sie, bevor die anderen was merken. Aber Jesus, wird berichtet, lässt sie nicht laufen. Trotz des Gedränges hat er gemerkt: Da hat jemand etwas von mir gewollt. „Wer war‘s?“ fragt er in die Menge. „Was fragst du?“ murren seine Jünger, „hier drängeln doch alle.“ Jesus lässt sich nicht abhalten, er sucht und entdeckt die Frau, die nun alle anstarren. Sie zittert: Entdeckt werden – das war das Letzte, was ihr passieren durfte. Oder war es nicht doch gerade umgekehrt: Entdeckt zu werden – das war es, was ihr endlich passieren musste. „Und sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit“, heißt es in der Bibel. Was war denn ihre ganze Wahrheit? Dass sie sich sehnte nach Nähe und Zuneigung, aber nicht daran glaubte. Dass sie sich verstecken musste wegen ihrer Peinlichkeit.

 

„Aber als deine Hände sich nach mir ausstreckten, hast du doch geglaubt“, sagt Jesus. „Du hattest den Mut, mich zu berühren. Und das hat dich gesund gemacht.“

 

Keiner widerspricht. Die Umstehenden sind nicht pikiert. Vielleicht doch vielmehr angerührt vom Mut der Frau, die ganze Wahrheit zu sagen, die ja auf die eine oder andere Art auch ihre Wahrheit ist: Dass sie nicht ertappt werden wollen in ihren Schwächen und Peinlichkeiten. Sich lieber voreinander verstecken. Und doch gerade da so dringend jemanden brauchen. Dass sie einander vielmehr brauchen, als sie zugeben möchten.

25.06.2020
Angelika Obert