Die große Stimme

Morgenandacht
Die große Stimme
29.04.2019 - 06:35
21.03.2019
Autorin des Textes: Melitta Müller-Hansen
Sendung zum Nachhören
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Leonard Cohen, der kanadische Songwriter. Markenzeichen – tiefste Männerstimme der Welt. Und spirituelle Texte. In seinem letzten Radiointerview, im Sommer 2016, hat er gesagt, dass er diese spirituelle Seite im Leben jedes Menschen erkennt, sie ist da, man kann sie bei allen spüren. Für ihn als Musiker ist sie – wenig überraschend – eine Sache des Hörens, ein Hörerlebnis. Aber ein ganz spezielles.

 

Alle merken, dass es da eine Wirklichkeit gibt, die sie nicht durchdringen können, die aber ihre Stimmung beeinflusst und alles, was sie tun. Diese Wirklichkeit fordert eine Antwort, jeden Tag, jede Nacht. Was ich damit sagen will, ist dass du die Bat Kol hörst, die große, die göttliche Stimme. Du hörst diese andere, tiefgreifende Wirklichkeit, die dir die ganze Zeit etwas vorsingt, die du aber meistens gar nicht genau deuten kannst.

 

Ich höre die Amsel am Morgen und jedes Jahr im Frühling gehen sie mir mehr ans Herz. Dann ist das Leben zart, ist helle Freude, ist Wohlklang. Doch das Leben ist beileibe nicht immer so. Sind die Ziele, die ich mir setze, angemessen? Entsprechen sie mir, dienen sie dem Leben oder nur meinem kleinen Ich? Diese Fragen wiegen schwer. Ich spüre sie, wenn ich jeden Tag ringe um Worte, die Gott meinen. An meinem Schreibtisch sitze, und lösche, was ich geschrieben habe, weil es banal, platt, kitschig, zu simpel erscheint. Wenn ich meinen alten Vater begleiten will und es mir nicht gelingt, zu ihm durchzudringen, nicht mit Worten, nicht mit Blicken und nicht mit Berührungen. Verstrickt in meine Geschichte mit ihm, und er in seine mit mir. Die große Stimme scheint bisweilen mehr zu fordern, als ich geben kann oder als aus mir heraus will. Dann beschert sie mir schlaflose Nächte und hat etwas Unerbittliches.

 

Leonard Cohen hat das quälend lange so erlebt. Hat sich ins Schweigen zurückgezogen und der großen Stimme, die eine Antwort fordert – jeden Tag und jede Nacht – dieser Stimme hat er Jahre lang keine Lieder mehr geschenkt. Depressionen haben ihn gequält. Er ist um sein ganzes Vermögen gebracht worden. Doch dann wieder auf Tournee gegangen. Die letzten 10 Jahre seines Lebens. Mit alten Hits und mit neuen. Und mit dieser unverkennbaren dunklen Stimme. Ein bemerkenswertes Resümee zieht er im Interview über die „bat Kol“, die große Stimme:

 

„Zum jetzigen Zeitpunkt in meinem Leben höre ich, wie sie sagt, ‚Schau, dass du jetzt noch dein Haus in Ordnung bringst, Leonard.‘ Sie ist jetzt – in dieser Lebensphase – sehr mitfühlend, ja barmherzig. Die Stimme, die mir sonst ein Leben lang gesagt hat, dass ich nichts tauge, dass ich eh nur Scheiß baue, die schweigt endlich. Das ist ein großer Segen, …A tremendous blessing, really…“ (1)

Muss ein Mensch 82 Jahre lang warten auf diesen Segen? Mich beeindruckt die Bescheidenheit, mit der Leonard darüber spricht. Er hat das eine hingenommen wie das andere, hat sich der Stimme mit ihren beiden Seiten geöffnet und seine Antwort gegeben. Sie ist eine große Bitte um Licht, um Barmherzigkeit. Davon singt er in seinen Liedern. Seine ganze Musik ist eine Hinwendung zum einem großen DU. If it be your will – Ist es dein Wille, so beende die Nacht…

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) Youtube: Leonard Cohen- His last interview complete

 

Musik: Leonard Cohen, If it be your will

21.03.2019
Autorin des Textes: Melitta Müller-Hansen