Die Selbstgerechten

Morgenandacht
Die Selbstgerechten
21.06.2021 - 06:35
15.06.2021
Matthias Viertel
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Selbstgerechtigkeit ist ein moralisches Problem. Und ein ziemlich politisches Thema. Das zeigt die Diskussion um das Buch der Politikerin Sahra Wagenknecht. Die Selbstgerechten, für sie sind das Lifestylelinke aus dem nur scheinbar linksliberalen Großstadtmilieu. Genderstern-chen, Klimaschutz, Seenotrettung: Immer mehr Menschen sind so sehr von der Richtigkeit der eigenen Meinung überzeugt, dass alle anderen Meinungen und Haltungen einfach verdammt werden. Nicht, dass Populisten, Rassisten und Menschenfeinde Recht hätten. Aber Selbstge-rechtigkeit gibt die eigene Orientierung und die eigenen Privilegien als Tugend aus. Und das mit einer moralischen Autorität, die im Endeffekt doch nichts anderes als die eigene Lebens-weise rechtfertigt. 
Egal wie man sich zu dem Buch der Politikerin Wagenknecht verhält, das Phänomen der Selbstgerechtigkeit jedenfalls ist nicht zu übersehen, in keinem der politischen Lager. Es scheint sogar, als würde die Zahl der Menschen zunehmen, die ihre eigene Position nicht mehr hinterfragen und deshalb Andersdenkende verurteilen. Das ist erkennbar auf allen Ebenen, erst recht mit ungezählten Shitstorms im Internet. 

Auch wenn die Formen neu sind, das Problem der Selbstgerechtigkeit ist alt, geradezu biblisch alt. Im Neuen Testament werden Menschen, die besonders selbstgerecht in Erscheinung treten, als Pharisäer vorgestellt. Eine Gruppe von frommen Menschen, die immer wieder das Verhal-ten Jesu und seiner Jünger kritisiert. Der Begriff des Pharisäers ist deshalb geradezu sprich-wörtlich zu einem Ausdruck für Menschen geworden, die sich für besser halten und andere deshalb diskreditieren.
Historisch betrachtet wird man den Pharisäern damit nicht ganz gerecht. Tatsächlich waren sie eine Gruppierung, die den Christen sogar sehr nahestand. Entstanden war sie als Oppositi-on gegen die Tempelpriester, die unter Fremdherrschaft standen. Im Volk wurden die Pharisä-er sehr populär, wohl auch wegen ihres Widerstands gegen soziale Ungerechtigkeit, die auf das Konto der religiösen Aristokratie ging. Fromm war ein Mensch für die Pharisäer nur dann, wenn seine Handlungen auch mit den Worten übereinstimmten. Deshalb verfolgten sie penibel, was Jesu Jünger taten, und kommentierten es entsprechend.

Insofern liegt es nahe, wenn die Zeugnisse der Evangelien nicht gerade objektiv über die Pha-risäer berichteten. Und doch ist aus den Geschichten über Pharisäer im Neuen Testament ei-niges zu lernen. Zum Beispiel aus dem Gleichnis, das Jesus erzählt von einem selbstgerechten Pharisäer und einem von Selbstzweifeln erfüllten Zöllner (Lk 18, 9-14). Beide sind im Tempel und beten. Der erstere zählt auf, wie großartig er ist und was er alles an Gutem aufzuweisen hat; der andere dagegen sagt nicht viel, bittet nur um Vergebung für die Schuld, die er auf seine Schultern geladen hat.

Der Clou an dem Gleichnis von Pharisäer und Zöllner liegt aber gerade nicht in dieser ober-flächlichen Gegenüberstellung: Hier der selbstgerechte Mensch, der sich in seiner Haut so gut fühlt, und dort der Sünder, der sich selbst erniedrigt. Der Clou des Gleichnisses liegt darin, dass es ein Dilemma offenlegt. Es ist nicht möglich, mit dem Finger auf den so selbstverlieb-ten Pharisäer zu zeigen, ohne dabei automatisch in eben diese Rolle des selbstgerechten Rich-ters zu schlüpfen. 
Der Selbstgerechtigkeit, so zeigt das Gleichnis von Pharisäer und Zöllner, ist eben nicht durch moralische Empörung beizukommen. Auch nicht durch Verachtung oder kritische Kommentie-rung. Selbstgerechtigkeit kann ich schlecht bei anderen Menschen reklamieren, sondern in erster Linie nur bei mir selbst. Also: Besser kein Shitstorm im Internet, keine moralisierenden Bücher, stattdessen lieber etwas stiller, höflicher und mit einem gewissen Zweifel an der ei-genen Haltung.
 

Es gilt das gesprochene Wort.


 

15.06.2021
Matthias Viertel