Erinnert werden

Morgenandacht
Erinnert werden
05.09.2019 - 06:35
13.06.2019
Cornelia Coenen-Marx
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Von Mary Jones hatte ich nie gehört. Vor drei Wochen entdeckte ich sie in Bala, einer kleinen Stadt in Wales. Zuerst sah ich nur ihren Namen an einer Hauswand. Da hing eine Plakette, die an sie erinnerte. An Mary Jones und an Thomas Charles, den Gründer der Bibelgesellschaft. Darunter ein Datum: 1804. Im Reiseführer fand ich dann mehr: 1804 lief Mary Jones, gerade 20 geworden, aus ihrem Heimatdorf zu Fuß nach Bala. Um eine Bibel zu kaufen! 42 km barfuß über Land, wie es damals üblich war. Sie hatte lange gespart und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Bibel in walisischer Sprache. Das beeindruckte Thomas Charles, damals Pfarrer in Bala, so sehr, dass er eine Bibelgesellschaft gründete – damit jeder, der sich das wünschte, eine eigene Bibel bekam. In Zukunft werde ich an Mary Jones denken, wenn ich im Hotel eine Bibel finde – im Nachttisch oder im Kleiderschrank. Denn auch die Idee, Bibeln in Hotels zu verteilen, geht auf diese Anfänge zurück. Auf die Sehnsucht und die Ausdauer von Mary Jones.

Solche Entdeckungen liebe ich. Eine Plakette in einer fremden Stadt, ein Gedenktag, das „Kalenderblatt“ hier im Deutschlandfunk – das alles erinnert an völlig unbekannte oder längst vergessene Persönlichkeiten. Manche haben Großes geleistet und sind dann doch in der Versenkung verschwunden. Manche bringen nichts als ihre Sehnsucht, so wie Mary Jones. Ich finde es großartig, dass Bala sich nicht nur an den Theologen Thomas Charles erinnert, sondern auch an diese junge Frau, die alles in Gang setzte. Ohne die Gedenktafel hätte ich nichts von ihr gewusst.

Das Gedächtnis hängt von so vielen Zufällen ab. Und Erinnerung vergeht – sie ist endlich und brüchig wie unser Leben. Manchmal finde ich das schwer zu ertragen. Wir versuchen dagegen anzukämpfen, lehnen uns auf gegen die Zeit und den Tod – mit Gedenksteinen auf dem Friedhof, mit Denkmälern und Plaketten, Reiseführern und Geschichtsbüchern. Im „Kalenderblatt“ wurde kürzlich an Victor Ullmann erinnert, einen Komponisten, der in Ausschwitz ermordet wurde. Wie so viele jüdische Deutsche war er lange vergessen. An wen man sich erinnert und wer in Vergessenheit gerät, das hat immer auch mit den Lebenden zu tun. Mit denen, die Macht haben über die Geschichtsschreibung – im Großen wie im Kleinen.

Je älter ich werde, desto mehr überlege ich, was ich von meinen Erfahrungen weitergeben möchte. Was hat mich geprägt? Was ist mir wichtig? Was soll einmal auf meinem Grabstein stehen? Vielleicht weiß ich das irgendwann selbst nicht mehr – das Vergessen beginnt ja oft schon zu Lebzeiten. Da ist es gut, etwas aufzuschreiben oder anderen zu erzählen – Kindern und Enkeln, aber auch Freunden und Fremden. Solange die Erinnerung lebt, sind wir nicht ganz tot. „Was noch erzählt werden muss“, heißt das jüngste Buch von Hans Bartosch. Er ist Krankenhausseelsorger, und die Menschen, die er zu Wort kommen lässt: Sie haben es geschätzt, dass einer ihre Geschichte hören wollte, dass er sie aufschrieb.

Als wäre unser Leben aufgezeichnet in Gottes Buch. Die Bibel gibt mir die Hoffnung, dass in Gottes Geschichte niemand vergessen ist – gerade die Kleinen nicht, die Unbekannten, Illegalen und Anonymen. Und dass nichts vergessen ist, auch die Grausamkeiten nicht und die Leiden.

„Er will stets seines Bunds gedenken“, heißt es in einem Psalm. Weil Gott sich an uns gebunden hat, vergisst er uns nicht.

 

Gott erinnert sich – nicht wie eine Datenkrake, nicht wie ein Superhirn. Sondern wie junge Leute sich die Namen der Geliebten aufs Handgelenk tätowieren lassen, so erinnert sich Gott an uns. Wie Nachkommen vom Leben der Vorfahren erzählen. Noch wenn wir uns selbst vergessen, bleiben wir lebendig in ihm.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Cornelia Coenen-Marx