Gebote der Gewaltlosigkeit

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Prateek Gautam

Gebote der Gewaltlosigkeit
von Melitta Müller-Hansen
10.11.2022 - 06:35
29.07.2022
Melitta Müller-Hansen
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„Es war ein Wunder biblischen Ausmaßes“: „siebenmal zogen die Posaunen um Jericho, bis die Mauern einstürzten, siebenmal zogen wir durch Leipzig, bis die Mauer fiel!“ So haben die Pfarrer von Leipzig, Plauen, Dresden und Berlin gedeutet, was vor 33 Jahren geschah. Sie wollten sagen: ‚Es kam von Gott. Wir haben es nicht gemacht!’

Aber das Wunder ist nicht vom Himmel gefallen. Es hat eine sehr vernünftige, rationale Seite und eine lange Vorgeschichte. Es lebt vom langen Atem derer, die zwanzig Jahre lang Kerzen angezündet haben in ihren Friedensgebeten, auch wenn sie nur zu dritt oder zu fünft beieinander waren. Es lebt vom Leiden derer, die sich haben einsperren lassen in die Gefängnisse, weil sie ihren Mund aufgetan haben gegen das Unrecht. Und es lebt davon, dass es ein paar Menschen gibt, die wussten, wie gewaltloser Widerstand funktioniert.

Gewaltlosigkeit ist großgeschrieben im Jainismus Indiens, im Judentum, aus dem Jesus von Nazareth kommt und im Christentum, das ihm folgt. „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann biete die andere auch dar“. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ – so hat es Jesus formuliert. Ein Wissen, das sich durch die Jahrhunderte erhalten, vervielfältigt und verfeinert hat. Im zwanzigsten Jahrhundert hat das vier Mal Menschen mobilisiert und Unrechtssysteme gestürzt: Mahatma Gandhi brachte in Indien in den 40er Jahren durch Friedensmärsche die Kolonialherrschaft des British Empire zu Fall. Martin Luther Kings Bewegung beendete in den 60er Jahren die Rassengesetze in Amerika. In Südafrika stürzte das Apartheidregime durch Boykotte und nicht zuletzt durch die Friedensfigur Nelson Mandela. Und dann die friedliche Revolution im deutschen Herbst 1989.

 

In diesem blutigsten aller Jahrhunderte ist das eine Lichtspur. In diesem 20. Jahrhundert, in dem das Wissen in Kriegsführung und Menschenvernichtung so perfektioniert wurde, hat sich ein anderes Wissen angehäuft: Wie man das Böse gewaltfrei überwindet. Heute inspiriert es die Menschen im Iran, in Belarus, auch in Russland. Die Kreativen, die Mutigen, die Sanftmütigen. Sie riskieren ihr Leben. Denn immer noch und immer wieder stehen wir mit beiden Beinen in einer Welt voller Gewalt.

Und genau dort haben die Worte Jesu ihren Ursprung. Da ist die Übermacht der römischen Besatzung. Und da ist der aussichtslose Widerstand einer kleinen Gruppe der Zeloten; mit terroristischen Aktionen, mit Attentaten auf Schlüsselfiguren Roms verrichten auch sie ein blutiges Handwerk. Jesus lehnt das ab. Und darauf beruft sich Martin Luther King und formuliert neun Gebote der Gewaltlosigkeit. Den Menschen, die mit ihm marschierten, wurden sie auf Verpflichtungskarten ausgehändigt, die sie unterschreiben mussten. Und schon vorher hatte jeder die Waffen abgegeben, die er bei sich hatte. Und die Gebote gehen so:

  1. Meditiere täglich über die Lehre und das Leben Jesu.
  2. Denke immer daran, dass die Gewaltlosigkeit als Ziel Gerechtigkeit und Versöhnung sucht, nicht den Sieg.
  3. Geh und sprich liebevoll, denn Gott ist Liebe.
  4. Bete täglich, Gott möge dich brauchen, damit alle Menschen frei werden.
  5. Opfere persönliche Wünsche, damit alle Menschen frei werden.
  6. Beachte im Umgang mit Freunden und Feinden die Regeln des Anstands.
  7. Suche den Mitmenschen und der Welt zu dienen.
  8. Enthalte dich der Gewalt in Tat, Sprache und Gedanken.
  9. Strebe danach, geistig und körperlich gesund zu bleiben.

Neun Gebote der Gewaltlosigkeit. Ich lese sie nicht als Handlungsanweisung für Menschen in der Ukraine oder für unsere Regierung. Ich nehme sie für mich. Und baue auf ihre Sanftmut.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

29.07.2022
Melitta Müller-Hansen