Getragen werden

Morgenandacht
Getragen werden
04.09.2019 - 06:35
13.06.2019
Cornelia Coenen-Marx
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Eine Trageschule? Das Start-up meiner Freundin hat mich erst einmal irritiert. Muss man Tragen lernen? Kann das so schwierig sein? Inzwischen weiß ich: die Trageschule läuft gut; sie inspiriert viele. Auf der Website sieht man Mütter und Väter aus Afrika, Europa und Australien, die ihre Kinder in bunten Tüchern auf dem Rücken tragen oder auch vor der Brust. Und in den Kursen lernt man nicht nur das Binden von Tragetüchern, man erfährt auch viel über Bindung. Denn Bindung hat auch mit Berührung und körperlichem Kontakt zu tun. Getragene Babys weinen weniger. Und nichts ist berührender, als Menschen ins Leben zu tragen – in der Schwangerschaft und darüber hinaus. In manchen Kirchen ist es üblich, die eben getauften Kinder einmal durch die Kirche zu tragen – damit die ganze Gemeinde sie begrüßt.

Später ist es nicht mehr so einfach, sich tragen, heben oder schieben zu lassen. Nicht nur, weil wir an Pfunden zulegen und die anderen ganz schön schleppen müssen. Es wird auch schwerer, auf andere angewiesen zu sein. Auch mit den Berührungen ist es nicht mehr so selbstverständlich. „Ich will Euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet“, heißt es in der Bibel (Jes 46,4). Eine großartige, eine göttliche Zusage, aber ich kann nicht verhehlen, dass mich etwas stört. Alter muss doch nicht mit Schwäche einhergehen, denke ich. Und grau sind manche schon mit 30. Es klingt ein bisschen, als würden wir alle früher oder später zum Pflegefall. In unserer Gesellschaft heißt das: abgeschrieben. Wer nicht auf eigenen Beinen stehen kann, wird schnell abgehängt. Worte wie Pflegefall oder Hängematte sagen alles: Wer Hilfe braucht, wer getragen werden muss, gehört nicht mehr richtig dazu.

„Singt, singt dem Herren neue Lieder“, heißt es in einem Psalm. Eine neue Sprache ist gefragt, wenn es um Hilfe geht, um Angewiesenheit. Als ich 10 war, habe ich erlebt, wie gut es sein kann, getragen zu werden. Damals hatte ich ein Problem mit meiner Hüfte und starke Schmerzen. Ein ganzes Jahr lang konnte ich nicht zur Schule gehen, musste liegen und getragen werden. Mit dem Stuhl zum Tisch, die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das war lästig – und doch großartig, wie meine Eltern das schafften. So toll, wie als Drei-oder Vierjährige beim Vater auf der Schulter zu sitzen. Und die Welt von oben zu betrachten. Wer so getragen wird, muss sich nicht klein fühlen. Und Eltern, die ihre Kinder so tragen, tun das mit Stolz und Dankbarkeit. Wir leben von diesem Prinzip der starken Schultern. Wenn wir meinen, wir müssten alles allein durchstehen: das trägt nicht. Aber Gott trägt. Ein Psalm erzählt davon, wie der große Gott die Kleinen trägt. Die Menschen, die er liebt – sein ganzes Volk. Eigentlich unvorstellbar. Aber meine Kindererfahrung ruft warme Erinnerungen wach:

 

„Der Herr gedenkt an sein Erbarmen und seine Wahrheit stehet fest. Gott trägt sein Volk auf seinen Armen und hilft, wenn alles uns verlässt“. (Psalm 98, EG 286, 2)

 

Vielleicht ist deshalb die Geschichte von den Spuren im Sand so beliebt. Am Strand, beim Nachdenken über den eigenen Weg, kommt jemand ins Gespräch mit Gott. „Zwei Spuren sehe ich da auf dem Weg“, sagt er. „Ich weiß, Du warst immer an meiner Seite. Aber gerade da, wo es mir besonders schlecht ging, da sehe ich nur eine Spur. Da fühlte ich mich so verlassen.“ Die Antwort ist verblüffend und Anlass zum Weiterdenken: „Da habe ich Dich getragen.“

Gott demütigt uns nicht, wenn wir Hilfe brauchen, er macht uns nicht klein und abhängig. Gott lässt uns unseren eigenen Weg finden, auch wenn das nicht immer einfach ist. Dass wir so auch füreinander da sein könnten, dass wir einander so tragen, das wünsche ich mir.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2019
Cornelia Coenen-Marx