Ich bin

Morgenandacht

epd-bild/Christian Ditsch

Ich bin
von Melitta Müller-Hansen
08.11.2022 - 06:35
29.07.2022
Melitta Müller-Hansen
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Je suis Charlie. 7. Januar 2015, 11.52 Uhr. Der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ist gerade vor einer halben Stunde passiert. Da setzt ein Musikjournalist bei einer Pariser Zeitung über Twitter diese drei Worte in die Welt: Je suis Charlie. Binnen kurzer Zeit verbreiten wie sich, werden auf Zetteln, Plakaten und in den sozialen Medien sichtbar in der ganzen Stadt. Und weit darüber hinaus. Kurz, griffig. Aber was wollen sie sagen? „Ich bin gemeint“? Ich bin gemeint, wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung angegriffen wird? Ich protestiere gegen die Gewalt und werde mich nicht einschüchtern lassen?  Die Überlebenden des Anschlags in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ sind damals gar nicht so begeistert. Sie wittern Betroffenheit, die sich bald verflüchtigt und einen nicht viel kostet.

Seither sind unzählige „Ich bin“-Aussagen dazugekommen, auch sie hat der Terror hervorgebracht: „Je suis Paris“ im November 2015. „Je suis Bruxelles“. Die Liebe der Menschen zu ihrer eigenen Stadt geht hier auf die Straße, die nun verwundet, wie eine Mutter um ihre Kinder weint.

Jetzt rufen seit Wochen Frauen und Männer im Iran „Frauen. Leben. Freiheit!“ und auch „Je suis Mahsa Amini“. Die Frauen reißen sich die Kopftücher herunter. Schneiden ihre Haare ab. Alle wehren sich gegen die zum Himmel schreiende Unterdrückung durch das Regime der Mullahs. Und gegen die Gewalt, die vor allem Frauen angetan wird. 

Ich bin – in einer Zeit, in der alle nicht mehr so einfach klare Aussagen über sich als Gemeinschaft machen können, in der das ‚Wir‘ so brüchig geworden ist, schaffen diese Dreiwortsätze Eindeutigkeiten. Eine Solidarität der Verwundbarkeit. Der Trauer. Der Zusammengehörigkeit im Leid. Und ein Protest, ein Bekenntnis für das freiheitliche Leben. Bemerkenswert finde ich dabei: Hier entsteht eine Gemeinschaft nicht über ein übergestülptes Wir. Hier finden sich Einzelne zusammen, aus freien Stücken, das Ich steht im Mittelpunkt. Das Ich, das sich auf die universale Menschenrechtserklärung berufen kann, die jedem Menschen auf diesem Planeten Würde zuspricht. Die kein Mensch anzutasten hat, kein Staat, keine Religion. Keine Handelsinteressen, kein machtpolitisches Kalkül. Je suis. Und für eine gewisse Zeit werden wir zu Weggefährten, die etwas miteinander teilen. Kerzen anzünden, Lieder singen, sich in den Arm nehmen, aneinander denken, den öffentlichen Raum fluten. Von diesem „Je suis“ geht eine Kraft aus.

Wenn ich es höre, muss ich an die Ich-bin-Worte denken, die das Johannesevangelium von Jesus überliefert. Ich bin das Brot. Ich bin das Licht. Weg, Wahrheit, Leben. Ich bin die Auferstehung, der Weinstock, der gute Hirte, Ich bin die Tür. Siebenmal „Ich bin“. Brot macht satt. Licht macht hell, wo es dunkel ist. Es sind sieben Bilder des Lebens.

Diese sieben Ich-bin-Worte Jesu sind offen. Jeder Mensch ist berufen, in dieser Weise ‚Ich‘ zu sagen. Dem anderen Brot zu sein statt ein harter Stein, eine Tür und so etwas wie eine gute Hüterin, ein Hirte. Der Heilige Geist, so sagt es das alte Glaubensbekenntnis, schenkt dem, der zu Christus gehört, seine Menschlichkeit und seine Göttlichkeit und deshalb kann ich auch von mir sagen: Ich bin Brot, ich bin Licht, ich bin Weg und Leben.

Je suis, ich bin. So einfach. So genial. Und so entsteht ein großes starkes Wir, die Menschheit. Ein Wir, das nicht ausschließt, nicht bevormundet, und nicht vor Nationalstolz strotzt. Ein großes inklusives Wir.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

29.07.2022
Melitta Müller-Hansen