Im Spiegel der Zeiten

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Taylor Smith

Im Spiegel der Zeiten
30.10.2021 - 06:35
15.09.2021
Cornelia Coenen-Marx
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Ich fand es am Büchertisch eines Museums – als wir endlich wieder Museen besuchen konnten. Ausgehungert nach Kunst und neuen Perspektiven.  Das kleine Buch trug den Titel „Bilder in der Pandemie“. Unwillkürlich griff ich zu: Welche Bilder machen sich Künstler und Künstlerinnen von dieser Zeit? Beim Blättern entdecke ich: Das Bändchen versammelt keine neuen Bilder. Es geht vielmehr um neue Blicke auf alte, bekannte Bilder. Es zeigt, wie Corona unseren Blick auf die Welt verändert hat. Viel war ja in letzter Zeit von Corona als Brennglas die Rede, in dem man deutlicher sieht, wo die Brüche und Probleme liegen. Aber hier geht es um mehr:  Wir sehen die Welt anders, wir deuten sie anders.

 

Zum Beispiel auf den Judaskuss von Giotto – ein Gemälde vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Mit Farben und Linienführung lenkt der Maler den Blick in die Mitte des Bildes wie auf eine überbelichtete Stelle – dahin, wo die Umarmung des Judas in einen Übergriff umschlägt. „Das Fresco zeigt den Augenblick vor dem toxischen Kuss. Wir werden zu Zeugen dieses Angriffs auf Jesu unterhöhlte Abwehrkraft“, lese ich,  und „wir sehen die Folgen dieser verheerenden Infektion“.

 

Ein paar Seiten weiter eine Installation: zwei blaue Gummihandschuhe auf stählernen Attrappe. Sie rotieren, aber sie berühren sich nicht. Eine Anspielung auf Michelangelos Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle. Der weißhaarige Gottvater in seinem Himmel, der junge Adam auf der Erde – seine Hand reicht nicht hinüber. Social Distancing wie in der Pandemie. „Die Hand kann den anderen nicht erreichen, nur von innen können wir uns dem anderen nähern“, schreibt der Philosoph Slavoj Zizek. Nur ein tiefer Blick in die Augen, meint er, könne eine intime Annäherung offenbaren. Und so lenkt er meine Augen auf den Blickwechsel zwischen Adam und Gott.

 

Faszinierend, wie eine neue Zeit alte Bilder neu deutet. So geht es ja nicht nur mit der Kunst. Auch unsere Geschichte interpretieren wir immer neu – wir erleben das gerade am Beispiel des Kolonialismus. Dabei entsteht dann die Frage, ob und wie weit wir die Vergangenheit mit heutigen Maßstäben messen dürfen – oder ob gerade dieser Blick etwa zu Tage fördert, was vorher den Blicken verborgen war.  Die Männer, deren Namen wir gerade von Straßenschildern verbannen - handelten sie nicht nach den Maßstäben und Erwartungen ihrer Zeit? Ein entlastender – aber auch ein erschreckender Gedanke. Sind wir Gefangene unserer Zeit? Leben wir mit gehaltenem Blick, mit verstopften Ohren?

 

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild“, hat Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben. Und er wusste, wovon er sprach. Wie viele andere in seiner Zeit hatte er die Minderheit der Christinnen und Christen verfolgt, weil sie sich nicht unterordnen wollten. Er sei mit Blindheit geschlagen gewesen, heißt es in der Apostelgeschichte. Das wurde Paulus aber erst klar, als er Christus selbst begegnete - als er eine Stimme hörte, da warf es ihn um. Drei Tage lag er in tiefer Dunkelheit. „Wir sehen jetzt wie in einem Spiegel in einem dunklen Glas - dann aber von Angesicht zu Angesicht“, schreibt er nach Korinth. Die unmittelbare Begegnung mit Jesus hat ihm die Augen geöffnet.  

 

Ganz anders als wir, ist Jesus offenbar nicht in seiner Zeit gefangen.  Das fasziniert mich. In einer Zeit, als Kinder nichts galten, stellt er die Kinder in die Mitte. In einer Zeit, als Frauen vollkommen abhängig von ihren Vätern, Brüdern, Männern waren, macht er sie zu seinen Schülerinnen und wandert mit ihnen durchs Land. In einer Zeit, als Schuldsklaverei an der Tagesordnung war, erzählt er von dem Herrn, der seinen Knechten die Füße wäscht. Das alles können wir bis heute nachlesen und es hat unsere Maßstäbe verändert, ja, es hat die Zeiten verändert. So ist er nicht jenseits der Zeit, aber für Christinnen und Christen ihr Grund und ihr Ziel. Sein Geist lebt in den Momenten, die uns die Augen öffnen und in den Prozessen, die unsere Welt verändern. Das hilft mir, wenn ich versuche, mir ein Bild von meiner Zeit zu machen. Und dann auch zu handeln. Nicht nur in Zeiten der Pandemie.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

15.09.2021
Cornelia Coenen-Marx