Juliana

Morgenandacht
Juliana
08.01.2020 - 06:35
19.12.2019
Ulrike Greim
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

„Es ist alles wertlos geworden, seit Juliana ausgezogen ist,“ schreibt mir ihr Vater.

„Sie hat ihre Wurzeln gekappt, hat ihre Familie hinter sich gelassen und ist gegangen. An das Ende der Republik.

Können Sie nicht etwas tun?“

 

Lieber Herr W.,

nein, kann ich nicht. Des Menschen Wille ist ein Himmelreich. Ihre Tochter hat gerade Abitur gemacht. Sie muss raus in die Welt.

Nichts gegen Ihr Dorf. Sie wissen, ich liebe die Region, sie ist landschaftlich wunderbar. Mittelgebirge, frische Waldluft. Sie haben es gut. Juliana hatte es gut. Aber jetzt will sie studieren. Sie will etwas lernen. Sie hat ein konkretes Ziel.

 

Sie finden, ich hätte ihr helfen sollen, hier zu bleiben. Sie wissen, ich habe lange und oft mit ihr gesprochen. Aber sie wusste, was sie will. Das macht sie jetzt. Ich bewundere sie dafür. Sie ist hartnäckig. Mit Verlaub – das hat sie von Ihnen. Sie ist zielstrebig. Das braucht sie auch für ihren Berufswunsch. Sie ist unabhängig. Obwohl Sie als Vater, lieber Herr W., so stark zum Ausdruck gebracht haben, sie solle bei Ihnen im Dorf bleiben. Sie ist trotzdem gegangen.

 

Das schmerzt Sie. Von außen betrachtet kann ich nur sagen: Die Entscheidung Ihrer Tochter zeigt, dass sie eine starke junge Frau ist.

Trotzdem verstehe ich Ihren Schmerz, aber: Genaugenommen können Sie stolz auf Ihre Tochter sein.

Sie sagen: Juliana kappe ihre Wurzeln. Aber nein, gerade ihre Wurzeln machen sie doch so stark.

Sie sagen, dass jetzt alles wertlos ist, was Sie und die Generationen vor Ihnen aufgebaut haben. Das klingt heftig. Und ich glaube, es stimmt nicht. Es hat alles einen Wert – jeweils zu seiner Zeit. Ihre Arbeit hat einen Wert – mit und ohne Tochter an Ihrer Seite.

So wenig ich von Ihrer Firma weiß, so sicher ist doch: Ihre Arbeit ist auch für Sie selbst, für Ihre Frau, Ihren anderen Sohn wertvoll. Auch mal für Ihre Enkel. Und natürlich für Ihre Kundinnen und Kunden. Für Ihr Dorf.

Ich verstehe Ihren Schmerz.

Ich verstehe ihn gut.

Glauben Sie mir.

 

Ich weiß, wie fürchterlich es ist, ein Kind zu verabschieden, das seinen Weg gehen will.

Es ist ein bisschen wie Sterben.

Und wir Eltern können nur trauern. Das Kind in Gottes Hände befehlen.

Gott bitten, er möge das Kind behüten, begleiten, beschützen vor allem Übel.

Das ist unsere Aufgabe: Das Herz offen zu halten, alle guten Gedanken und Segen hinterher zu schicken.

Nicht bedrängen. Nichts wollen.

 

Was wir brauchen, müssen wir uns selbst besorgen. Wir sind erwachsen, wir sind unabhängig.

Ich weiß, das klingt hart in Ihren Ohren.

 

Lieber Herr W., unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind uns eine Zeitlang in die Hände gelegt. Ich bin berührt und glücklich, dass uns der Himmel das zutraut.

Irgendwann sind sie flügge und fliegen los.

Wir würden sie beschädigen, wenn wir sie festhalten.

Wir würden dem Schmetterling die Flügel zerdrücken.

Das dürfen wir nicht tun.

Der Schmerz, der dann unweigerlich kommt, ist unsere Aufgabe.

Trauern ist harte Arbeit.

Und es ist eine wichtige Arbeit.

 

Sie schreiben, dass ihre Elternherzen zerbrochen sind am Tage des Abschieds. Und neulich wieder, als sie ein Wochenende lang da war und Sie ihre Tochter dann zum Zug gebracht haben.

Ich kenne das Gefühl.

 

Und Gott kennt ihr Gefühl. Und er heilt. Gott heilt so leidenschaftlich gern alle, die zerbrochenen Herzens sind. So steht es in der Bibel. So habe ich es erfahren.

Er hält doch Ihre Herzen in der Hand. Das ihrer Tochter, das von Ihnen, von Ihrer Frau, Ihrem anderen Sohn.

 

Bitten Sie den Höchsten, Ihr Herz heilen zu dürfen.

Halten Sie es nicht selbst zu fest in der Hand, halten Sie es dem Höchsten hin.

Seine Sonne scheint warm.

Ihr Herz darf heilen.

Kann sein, es dauert ein bisschen.

Aber es darf wieder ganz werden und stark. Und fröhlich und erfinderisch. Und voller Liebe für alle, die mit Ihnen sind.

Sie sind ein starker Mann. Geben Sie Ihre Tochter frei in Gottes weite Welt. Sie wird ihren Weg finden.

 

Und wenn Sie getrauert haben, dann dürfen auch Sie wieder Ihren Weg finden. Gott ist nah. Sie dürfen ihn suchen. Tastend fühlen und finden. In Ihrem Dorf. Oder – wer weiß, hinter dem Horizont. Die Welt steht auch Ihnen offen.

Herzlich und verbunden

Ihre UG

 

Es gilt das gesprochene Wort.

19.12.2019
Ulrike Greim