Kann man Gott riechen?

Morgenandacht
Kann man Gott riechen?
22.06.2021 - 06:35
15.06.2021
Matthias Viertel
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Die Europäische Union fördert seit kurzem ein internationales Forschungsprojekt, bei dem ein Aroma-Gedächtnis erfasst werden soll (1). Wie weit Erinnerungen an bestimmte Gerüche zu-rückreichen, ist schnell zu testen: Man muss sich dazu nur an die eigene Kindheit erinnern, an den Duft von Speisen, von Wohnungen und Kleidung. Das Parfüm der Mutter oder die Zigarre des Großvaters. Die Erinnerung an Gerüche kann Gemeinschaft stiften aber auch Feindschaf-ten untermauern. Das zeigt schon die Umgangssprache – wenn man sagt, einen bestimmten Menschen gut oder eben gar nicht riechen zu können. Solche Erfahrungen sollen deshalb in einer Art Aroma -Enzyklopädie zusammengefasst werden, um zu klären, wie Europa riecht.
Ob man auch den Glauben riechen kann? Natürlich nicht, möchte ich sofort entgegnen. Beim Glauben geht es doch um transzendente Fragen. Und Transzendentes ist nun mal nicht mit Sinneswahrnehmungen zu erfassen. Und doch zögere ich und habe zumindest die Vermutung: Auch der Geruchssinn hat eine Bedeutung für den Glauben. Und zwar sowohl für persönliche Erlebnisse als auch für das kollektive Erinnerungsvermögen.

Da sind zunächst einmal die großen Feste. Ich erinnere mich noch genau, wie in meiner Kind-heit Weihnachten roch, das war diese einmalige Mischung aus Tannen, Kerzen und Lebkuchen-gewürzen. Und Ostern erinnert mich an den Duft der ersten Blumen, die zaghaft aus dem Bo-den sprießen und an Minze, weil damit der Osterbraten gewürzt war. Das geht genauso gut auch andersherum: Tannenduft und Lebkuchen erinnern mich an Weihnachten, Minze an Os-tern. Ich erinnere mich auch genau an meine ersten Besuche in der Kirche. Der Geruch war einfach unvergleichlich, eine sonderbare Mischung aus altem Holz, Bohnerwachs und abge-brannten Wachskerzen. 
In der Zeit, als das Christentum seine Lebensformen entwickelte, wusste man von der Bedeu-tung, die die Nase bei Glaubensfragen hat. Vom Weihrauch war seit langem bekannt, dass der Rauch eine heilende Wirkung hat. Er wirkt desinfizierend, deshalb war es sinnvoll, ihn bei großen Menschenansammlungen in den vollen Gottesdiensten abzubrennen. So wurde das Risi-ko gemindert, sich gegenseitig mit Krankheiten anzustecken. Aber das allein war es ja nicht, zugleich duftet Weihrauch ganz vorzüglich und hat eine belebende Wirkung. 
Und dann kam jemand auf die Idee, dass der Weihrauch durch die Nase in den Kopf steigt und dadurch auch eine innere, eine geistige Reinigung stattfinden kann. Der Weihrauch in den Kirchen sollte nun nicht mehr allein gegen Infektionen helfen, er sollte nun auch zur geistig-seelischen Säuberung dienen, und das erschien den Menschen früher mindestens genauso wich-tig wie das Waschen der Hände. 

Dass Gott köstliche Düfte zur Kenntnis nehmen könnte, das gehört zu den festen Vorstellungen der Antike und ist wesentlicher Bestandteil des Opferkultes. Der Geruch von gebratenem Fleisch und von Weihrauch begeisterte also nicht nur die versammelten Menschen, die zum Festopfer in den Tempel gekommen waren. Die Düfte sollten auch die Aufmerksamkeit Gottes erregen, auf dass die Gebete erhört und mit Wohlwollen bedacht würden. 
Heute sperrt sich der Verstand gegen allzu anthropomorphe Gottesvorstellungen, und der Ge-danke, man könne Gott riechen, erscheint geradezu absurd. Trotzdem hat der Glaube einen Duft. Für mich duftet er nach Kerzen und Weihrauch, er duftet nach Ruhe und Sicherheit, nach Geborgenheit und Hoffnung. 
Düfte helfe dabei, längst vergessene Ereignisse wieder wachzurufen. Sie muntern auf und las-sen Nähe erfahrbar werden. Und um das alles nicht nur in den Gedanken zu buchstabieren, sondern mit der Nase aufzusaugen, zu verinnerlichen, auch dafür brauche ich die Kirchen mit diesem so schönen Geruch nach altem Holz, Bohnerwachs und abgebrannten Kerzen.
Wenn dann irgendwann einmal das Aromagedächtnis Europas erforscht und die Geruchs-Enzyklopädie fertig sein sollte – dieser Duft des Glaubens darf darin auf keinen Fall fehlen.

Es gilt das gesprochene Wort.

(1)    https://www.br.de/nachrichten/kultur/odeuropa-so-laesst-die-eu-ihre-geruchs-geschichte-erforschen,SGiUzXr

15.06.2021
Matthias Viertel