Kolibri sein

Morgenandacht
Kolibri sein
07.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Stephanie Brall
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Eines Tages versammelten sich

alle Tiere des Waldes,

weil der Wald brannte.

Die Tiere hatten Angst und waren hilflos

und wussten nicht weiter.

Nur der kleine Kolibri flog zum Fluss,

nahm einen Tropfen Wasser,

brachte ihn zum Feuer,

flog wieder zurück zum Fluss,

holte wieder einen Tropfen,

brachte ihn zum Feuer.

Und so weiter.

 

Da sagten die anderen:

„Hör auf damit.

Du bist zu klein.

Und die Wassertropfen sind so winzig.

Du wirst es nie schaffen,

das Feuer zu löschen.“

 

Der Kolibri schaute sie an

und sagte:

„Ich tue,

was ich kann.

Ich gebe mein Bestes.“ (1)

 

Ich halte Ausschau nach den Kolibris dieser Welt,

von denen diese Legende aus Amazonien erzählt.

Nach denen,

die tun,

was sie tun können.

Leute von heute

und Leute von früher:

 

Ich denke an einen,

der einen Brief schrieb.

Vor 76 Jahren,

im dunklen Kellergefängnis in Berlin,

mitten im Winter,

einen Brief an seine Verlobte,

Er legte dem Brief ein Gedicht bei.

Im darauffolgenden Frühling wurde der evangelische Theologe

im KZ Flossenbürg hingerichtet:

Dietrich Bonhoeffer.

 

Das Gedicht, das er damals seinem Brief beilegte,

wird heute gesungen von Menschen überall auf der Welt,

und schenkt Trost durch alle Zeiten hindurch:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen,“ heißt es da,

„erwarten wir getrost was kommen mag,

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen.

Und auch gewiss an jedem neuen Tag.“ (2)

 

Dann denke ich an den März vor 9 Jahren,

als ein Erdbeben der Stärke 9 die Küste von Japan erschütterte.

Auf das Beben folgte ein Tsunami,

woraufhin es im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zur Kernschmelze kam.

Tausende starben, tausende flohen.

 

Vor der Katastrophe war die Präfektur berühmt für ihr Obst.

Heute steht der Name Fukushima für Radioaktivität.

 

Ich denke an all die, die unmittelbar betroffen sind.

An tausende Menschen, die bis heute täglich

mit Abriss-, Aufräum- und Sicherungsarbeiten beschäftigt sind.

Ich denke an die, die an umweltfreundlichen Lösungen forschen.

 

Und an die, die heute Mittag in Berlin dafür auf die Straße gehen,

um an Fukushima zu erinnern

und für die Energiewende einzustehen.

 

Und dann denke ich an noch eine,

die auf die Straße geht.

Seit 2018, Woche für Woche.

 

Die sich vor die Großen dieser Welt stellt, vor die im Anzug.

Und dann sie – völlig ungeschminkt.

Wie sie sich das zu groß eingestellte Mikrofon heran holt.

Auf dem Pult ihr Zettel, wie bei einem Referat in der Schule.

Und wir Großen wie Schülerinnen und Schüler in der Schulbank,

denen sie ihr Anliegen vorträgt: den Schutz unsere Erde.

Sie sagt, was sie denkt.

Erinnert, weint, bittet, zetert, bedankt sich, geht.

 

Meine Patentochter Greta trägt ihren Namen,

wie viele Kinder ihres Alters.

Und viele unserer Kinder gehen auf ihre Demonstrationen.

Wie Millionen anderer Kinder

aus über hundert verschiedenen Ländern auch.

 

Gemeinsam tanzen sie aus der Reihe,

auf den Straßen unserer Realität,

für die Zukunft unserer Welt.

 

Holen die Schule ins Leben zurück.

Bringen uns Großen das ABC bei.

Diesmal nicht um der Noten willen.

Diesmal um des Lebens willen.

 

„Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“,

sagte die Primaballerina Pina Bausch einmal.

Ich denke bei diesen Worten an uns.

 

Und – an die Kolibris.

Wenn Kolibris fliegen, sehen sie aus als würden sie tanzen.

In der Luft stehen bleiben und rückwärts fliegen

können sie auch.

In der amerikanischen Mythologie

werden sie als Botschafter des Lichts,

der Liebe und der Hoffnung geehrt.

 

Die kleinsten Kolibris messen vom Schnabel bis zur Schwanzfeder ungefähr 5 bis 7 cm.

Sie heißen Bienenelfen und ernähren sich ausschließlich von Nektar.

Sie sind die kleinsten Vögel überhaupt

und doch bestäuben sie bis zu 1500 Blüten am Tag.

 

Im Angesicht der großen Ereignisse dieser Welt

stehen bleiben, rückwärts fliegen

und aus der Reihe tanzen,

egal wie klein ich bin -

dazu machen mir

die kleinsten Vögel dieser Welt Mut.

 

Und manchmal sind diese Vögel

auch Menschen.

 

Und sehr oft sind diese Vögel

Kinder.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. ISBN 978-3-96340-049-0

 

  1. In Anlehnung an Wangari Maathai und an Cyril Dion in „Tomorrow“ und an „La légende du Colibri“: Une histore racontée et chantée par ZAZ (Actes Sud Junior) von Denis Kormann, ISBN 978-2330024215
  2. Der Brief von Dietrich Bonhoeffer ist erschienen in: Ruth-Alice von Bismarck, Ulrich Kabitz et. alt. (Hrsgg.): Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943–1945. C.H. Beck, München 2005.
  3. Das Lied „Von guten Mächten“ findet sich in den Gesangbüchern der EKD unter der Nummer 65.
30.01.2020
Stephanie Brall