Wir im Fenster

Morgenandacht
Wir im Fenster
13.10.2020 - 06:35
12.10.2020
Jörg Machel
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Lene Albrecht, Wir im Fenster

„Einmal, bei einem Besuch in einer verlassenen Kathedrale in Shanghai, stahl Ernest sich in den Beichtstuhl, wo er dreißig Minuten lang auf dem Platz des Priesters saß, die katholische Luft einatmete und wieder und wieder murmelte: Dir wird vergeben. Mein Kind, dir wird vergeben! Voller Neid war er dann aus dem Beichtstuhl getreten. Welch machtvolle göttliche Waffen gegen die Verzweiflung den Priestern zu Gebote standen; im Gegensatz dazu erschien ihm sein eigenes weltliches Rüstzeug der Deutungen und kreatürlichen Tröstungen wahrhaft armselig.“

Diese Worte legt Irvin Yalom in seinem Buch „Die rote Couch“ Ernest in den Mund, einem Therapeuten, der immer wieder damit konfrontiert ist, auf die Schuldverstrickungen seiner Patienten reagieren zu müssen, und deren Anliegen oft hilflos gegenübersteht.

Bei der Lektüre des Romans „Wir im Fenster“ von Lene Albrecht war ich an diese Passage aus der roten Couch erinnert und habe mich gefragt, ob das wirklich klappen würde mit der Beichte. Lene Albrecht hat sich in ihrem Erstlingsroman der Themen Freundschaft und Schuld angenommen. 

Angelpunkt des Romans ist der Verrat Linns an ihrer Freundin Leila. Der liegt Jahre zurück und schien vergessen, als eine zufällige Begegnung in der U-Bahn die Erinnerung wachruft und dazu nötigt, zurückzublicken und zu fragen, was ist eigentlich geschehen, wer war Linn damals, wer ist sie heute, was hat sie geprägt? 

Für Lene Albrecht sind wahr oder falsch keine angemessenen Kategorien, um dieser Problematik beizukommen. Ihr Roman nimmt seine LeserInnen mit auf eine Erinnerungstour durch die Kinder- und Jugendjahre der Ich-Erzählerin Linn. Dabei versucht Linn sich und ihre Welt zu verstehen, ohne zu werten. Präzise und sachlich erinnert sie Gespräche, Bilder, Szenen und man spürt, wie es sie verwirrt, erstaunt, befremdet, was da durch ihren Kopf geht.

Schuld ist ein zentrales Thema dieses Buches und es wird behandelt, ohne auf einen Urteils-spruch abzuzielen. 

Linn ist ganz nah an den Ereignissen und betrachtet sie doch so, als wäre sie getrennt davon. Im Grunde geht es dabei gar nicht um eine konkrete Tat, sondern um das Unterlassen und die Frage, inwiefern Linn eine Schuld trägt, weil sie bei einem gewalttätigen Übergriff auf Leila nicht eingreift, sondern schweigt, die Freundin im Stich lässt. 
Was aber hätte sie tun können, tun müssen, so fragt sie? Hätte sie sich gegen die Gruppe stellen müssen, hätte das etwas geändert? 

Dabei wird Linn sich zunehmend bewusst, wie stark sie eingebunden ist in ein Netzwerk aus Herkünften und Zugehörigkeiten, sodass sich ihr scheinbar persönliches Handeln häufig in vorgezeichneten Mustern bewegt.

„Heute weiß ich,“ so Linn, „dass ein Fenster nur einen Ausschnitt von etwas bildet. Vielleicht geht es nicht darum, etwas Bestimmtes zu zeigen, sondern darum, alles andere zu verbergen; eine dieser Wahrheiten, die man im Nachhinein zu verstehen glaubt, und ich gehe nicht so weit, mir einzubilden, es sei die einzig mögliche.“

Hat sich die Frage nach Schuld und Versagen damit aber wirklich erledigt? Verschwimmt am Ende alles im Nebel der vielen Perspektiven? Scheinbar nicht, denn Linn ist ihren Erinnerungen und Gefühlen ausgeliefert, die kommen ungefragt und lassen sich nicht abschütteln. 

Inwiefern der Beichtstuhl, in dem sich der Therapeut Ernest die göttliche Heilung der Hilfesu-chenden erträumt, ihr dabei tatsächlich eine Hilfe wäre, fände ich spannend mit Linn zu bereden, ersatzweise mit Lene Albrecht, der Autorin.
 

12.10.2020
Jörg Machel