Unfrisierte Gedanken

Morgenandacht
Unfrisierte Gedanken
14.10.2020 - 06:35
12.10.2020
Jörg Machel
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Stanislaw Lec, Unfrisierte Gedanken

 

Das „Predigerbuch“ ist eines der biblischen Bücher, welches nicht von allen Bibellesern geschätzt wird. Was dort steht, könnte auch in ganz weltlichen Spruchsammlungen vorkommen. Schwer zu sagen, wo genau das spezifisch jüdisch-christliche in diesen Sprüchen zu finden ist. Es interessiert mich auch nicht besonders. Mich freut es, dass die Weisheit weder kulturelle noch religiöse Grenzen kennt.

 

Besonders gefallen mir Gedanken, die nicht einfach nur bestärken und trösten, sondern aufrütteln, vielleicht sogar verstören. Ja, auch die finden sich in der Bibel. Beim Prediger Salomon steht der Satz: „Jüngling freue dich deiner Jugend, tu, was deinen Augen gelüstet und deinem Herzen gefällt.“ Prediger 11,9

 

Dieser Spruch wurde von Glaubenswächtern als gefährlich empfunden und so haben sie eine Warnung hinterhergeschoben: „Aber wisse, dass dich Gott um all dies ins Gericht ziehen wird.“ Immerhin, hatte man soviel Respekt vor den Worten des Weisen, dass man sie zwar ergänzt, nicht aber gestrichen hat.

 

Unverschämt und so gar nicht fromm ist auch dieser Aphorismus aus dem Predigerbuch 3,19: „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: Wie dies stirbt, so stirbt auch er, und sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh; denn es ist alles eitel.“ Solche Sätze waren es, die das Predigerbuch verdächtig machten, so dass es die Hürde in den biblischen Kanon aufgenommen zu werden, fast nicht geschafft hätte.

 

Für mich steckt Größe in den kleinen Sätzen. Sie sind widerspenstig oder aufbauend. Je nachdem. In der einen Situation wirken sie so, in einer anderen provozieren sie das Gegenteil.

So wie es die Gedanken des Predigers schwer hatten, ihren Platz in der Bibel zu finden, mussten auch engagierte Verlagsleute erst darum kämpfen, die Aphorismen von Stanislaw Lec gegen die Wahrheitshüter in der DDR-Zensurbehörde durchzusetzen.

 

Erst spät wurde sein Werk im Arbeiter- und Bauernstaat veröffentlicht und dann auch nur in Auszügen. Aber alle, die wir als DDR-Bürger das Glück hatten, eines der wenigen Exemplare im Buchhandel zu ergattern, begriffen sofort warum.

 

Mit wenigen Worten, oft nur mit einem Satz verstand Stanislaw Lec es, die vielen Lügen, die einem täglich von der Staatspropaganda aufgetischt wurden, zu entlarven.

„Sie steinigten ihn mit einem Denkmal“, ist so ein Spruch von ihm. Und wir assoziierten Thomas Münzer und Rosa Luxemburg und all die klugen Köpfe, deren Werke man ideologisch derart missbraucht hatte, dass von den Autoren nur noch wenig zu erkennen war. Und auch diesen Warnruf verstanden wir sofort: „Marionetten lassen sich sehr leicht in Gehenkte verwandeln. Die Stricke sind schon da“.

 

Doch auch uns Kirchenleuten streut Stanislaw Lec Salz in die Wunde, wenn er schreibt: „Am Anfang war das Wort – am Ende die Phrase.“ Oder er mahnt uns mit dieser Einsicht: „Schafft euch keine Götter nach eurem Vorbild.“

 

Ganz aktuell ist dieser Aphorismus aus dem fünfziger Jahren: „Der Fortschritt der Medizin wird uns das Ende jener liberalen Zeit bescheren, da der Mensch noch sterben konnte, wann er wollte.“

 

Und dies eine kluge Anmerkung zur gegenwärtigen Pandemie: "Menschliche Ignoranz bleibt nicht hinter der Wissenschaft zurück. Sie wächst genauso atemberaubend wie diese.“

Ein Satz, der mich angesichts der Proteste in Belarus ein wenig zu trösten vermag, ist der: „Wenn Despoten sich zum Terror flüchten, kann man ruhig schlafen. Das ist keine List.“

Und nun viel Freude beim Lesen im „Predigerbuch“ der Bibel und in den „Unfrisierten Gedanken“ von Stanislaw Lec.

12.10.2020
Jörg Machel