Machandel

Morgenandacht
Machandel
15.10.2020 - 06:35
12.10.2020
Jörg Machel
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Regina Scheer, Machandel

 

Ich bin nur sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, aber das Dritte Reich ist ferne Geschichte für mich. Daran muss ich denken, in diesen Tagen, wo wir den dreißigsten Jahrestag der deutschen Einheit begehen. Für mich sind meine Jahre in der DDR noch ganz gegenwärtig. Viele Bilder, Ereignisse, Begegnungen gehen mir durch den Kopf. Für jüngere Leute ist das eine weit zurückliegende Zeit.

 

„Machandel“ einen Roman von Regina Scheer habe ich erst kürzlich entdeckt, obwohl er schon ein paar Jahre im Buchhandel ist. Er hat mir geholfen, meine eigenen Erinnerungen noch einmal in ein neues Licht zu setzen und mir zu vergegenwärtigen, wie verschieden sich das gleiche Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven ausnimmt.

 

Machandel, so heißt ein kleines Dorf in Mecklenburg. Machandel, so benennen die Leute in dieser Gegend den Wacholderstrauch. Obwohl dieses kleine Dorf mit einem Adelssitz und nur wenigen Einwohnern abseits der großen Verkehrswege liegt, begegnet uns vor dieser unscheinbaren Kulisse die europäische Geschichte wie in einem Brennglas.

 

Aufhänger für ihren Roman ist das Märchen vom Machandelbaum, das davon erzählt, dass Marlene die Knochen ihres Bruders unter dem Baum begräbt, der dann als Vogel wiedergeboren, sein Lied vom Mord durch die eigene Stiefmutter singt.

 

Clara, die dominierende Stimme in dem Roman promoviert in Berlin über dieses Märchen und erzählt es in den vielfältigen Versionen der unterschiedlichen Länder und Regionen nach. Und sie geht selbst auf Spurensuche. Clara trägt gewissermaßen die Knöchelchen ihres Lebensumfeldes zusammen, damit auch sie Erlösung erfahren kann. Erlösung durch Erinnerung.

Beeindruckt haben mich die vielen Perspektiven, aus denen Regina Scheer Geschichte lebendig werden lässt.

 

Neben Clara treten in den insgesamt 25 Kapiteln zwei weitere weibliche und zwei männliche Ich-Erzähler auf. Orte und Zeiten wechseln. Zwischen den dreißiger und den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts spielt die Handlung, in Machandel, einem Dorf in Mecklenburg und Ost-Berlin sind die Schauplätze.

 

Im Mikrokosmos von Machandel wird die Leidensgeschichte der überschaubar kleinen Dorfgemeinschaft Stück für Stück entfaltet. Menschen offenbaren in der Zeit des Faschismus und des Stalinismus die miesesten und großartigsten Facetten ihres Charakters.

Dadurch, dass die Autorin den verschiedenen Protagonisten eine eigene Stimme gibt, ermöglicht sie es dem Leser, der Leserin, die eine Geschichte aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

 

Eine russische Zwangsarbeiterin kommt zu Wort, die erleben muss, wie der Nazi-Aufseher des Dorfes sich nach dem Krieg den Russen andient und wieder das Kommando zu übernehmen versteht.

 

Der Vater von Clara kommentiert die Nazizeit, den Aufbau des Sozialismus und dessen Zusammenbruch aus der Perspektive eines Kommunisten. Bei Kriegsende überlebte er den Todesmarsch der KZ-Häftlinge nur knapp, wird ein hochdekorierter Funktionär und steht der Wende fassungslos gegenüber. Nur ansatzweise kommen ihm Zweifel über die Rolle, die er selbst dabei gespielt hat und deckt die dann sehr schnell wieder mit den erlernten Parolen zu.

 

Deutsche Geschichte entfaltet sich in diesem klug konstruierten Roman auf eine berührende Weise. Und tatsächlich fand für mich so etwas wie Auferstehung durch Erinnerung statt. Die Opfer des Faschismus und des Stalinismus kommen noch einmal zu Ehren. Und doch wird deutlich, dass unter der Decke der Ideologien es am Ende oftmals die menschliche Charakterlosigkeit ist, die das Leben vergiftet.

12.10.2020
Jörg Machel