Stier Ferdinand

Morgenandacht
Stier Ferdinand
17.10.2020 - 06:35
12.10.2020
Jörg Machel
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Munro Leaf

 

Ali war ein wunderbar aufgeweckter Junge, voller Kreativität und Energie. Wenn er sich etwas vornahm, war er nur schwer zu stoppen und wenn ihm jemand in die Quere kam, musste er weichen. Helden waren seine Vorbilder und so zog er als Superman, als Boxer oder Löwenbändiger durch die Kita und forderte Respekt ein.

 

Als Pfarrer besuchte ich die Kita wöchentlich und um ihn auf eine andere Bahn zu bringen, erzählte ich in seiner Gruppe die Geschichte von David und Goliath, in der nun gerade nicht der starke überlegene Superheld Goliath den Kampf gewinnt, sondern der kleine Hirtenjunge David, der mit seiner Steinschleuder den großen Riesen in seiner Eisenrüstung niederstreckt.

 

Ali hörte aufmerksam zu. Die Geschichte gefiel ihm. Die Erzählstunde war vorüber, Ali nahm sich einen Schal als Schleuder, legte einen Tennisball hinein und war nun David. Er blieb auf der Siegerseite und wir mussten lachen, über meinen gescheiterten Versuch, Ali auf eine andere Spur zu setzen. Ali hatte seine Rolle und das war okay. Die Gruppe war überschaubar groß und alle Kinder kamen mit ihrer jeweiligen Position gut zurecht.

 

Aber weil mir daran gelegen war, die Kinder darin zu bestärken, dass es neben dem Wunsch groß, stark und siegreich zu sein, auch noch andere Vorbilder gibt, habe ich bei einem späteren Besuch in der Kita eines meiner Lieblingskinderbücher mitgebracht. Es heißt „Der Stier Ferdinand“.

Erschienen ist es im Ostberliner Kinderbuchverlag, geschrieben hat es Munro Leaf und illustriert wurde es von Werner Klemke, der als Titelgestalter des Magazins Kultstatus in der DDR hatte.

Es erzählt von Ferdinand, dem Stier, der auf einer grünen Weide unter alten Korkeichen zu einem prachtvollen Stier heranwächst, um irgendwann einmal in der Arena zu kämpfen.

 

Als er groß war und kräftig, kamen fünf Männer aus der Stadt, um den größten, schnellsten und stärksten Bullen für die Stierkämpfe in Madrid auszusuchen. Ihre Wahl fiel auf Ferdinand, der prächtigste Stier der ganzen Herde.

 

Doch zum Kämpfen eignete er sich partout nicht. Er roch lieber an den Blumen, als sich mit seinen Artgenossen im Kampf zu messen. Durch nichts ließ er sich provozieren und so mussten die Männer einsehen, dass Ferdinand für ihre Zwecke nicht taugte. Die Kinder mochten mein Buch, auch Ali. Aber als Vorbild gab es nichts her für ihn.

 

Viel später entdeckte ich den Gegenentwurf zu Ferdinand. Ernest Hemingway schrieb ihn: „Der treue Stier“. Die Geschichte beginnt mit den Worten: „Es war einmal ein Stier und sein Name war nicht Ferdinand.“

 

Der Stier von Hemingway kann und will nicht so sein wie der friedfertige Ferdinand. Es liegt nicht in seiner Natur. Er liebt es zu kämpfen, seine Kräfte zu messen und zu siegen. Dafür will er respektiert und geachtet werden. Davon handelt das Kinderbuch.

 

Gern hätte man ihn als Zuchtstier verwendet, aber ihm lag nur an der einen Kuh, die ihm an Kraft und Schönheit ebenbürtig war und weil er sich zur Zucht offenbar nicht eignete, kam er in die Arena, lieferte einen bewundernswürdigen Kampf und wurde getötet.

 

Ein erfülltes Leben für diesen treuen Stier, so schwärmt Hemingway. Ein Tierbuch zwar, aber mit einem machohaften Männerbild, das noch dazu mit einer eigentümlichen Todessehnsucht einhergeht.

 

Der große Autor hat sich erschossen, als ihm die Kräfte zu schwinden begannen. In meinen Augen nicht besonders heldenhaft. Wer nur auf kämpfen und siegen setzt, wird scheitern, denn irgendwann wird jemand kommen, der stärker ist als man selbst.

 

12.10.2020
Jörg Machel