Von der Kirche gebissen

Morgenandacht
Von der Kirche gebissen
30.09.2020 - 06:35
24.09.2020
Florian Ihsen
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„Schau mal, das ist meine neueste Arbeit“ sagt Nikola Saric zu mir, ein befreundeter Künstler. Er steht in seinem Atelier und zeigt mir sein neues Werk. Über das Internet hat er sich in Griechenland einen Bischofsstab gekauft. Einen, wie ihn Würdenträger der orthodoxen Kirche oft tragen.

Der Stab ist ungefähr 1 Meter 60 lang, aus Messing, vergoldet und glänzt. Oben auf einer Kugel steckt ein goldenes Kreuz. Rechts und links treten aus der Kugel zwei Schlangen hervor. Sie haben Augen aus geschliffenem roten Glas. 

 

Diesen Bischofsstab bearbeitet Nikola nun: Aus weißer Masse erschafft er eine kleine Skulptur: Ein Mensch. Dieser Mensch ist einfach weiß. Keine Augen. Kein Geschlecht. Keine Haare. Kein Gesicht. Und dieser Mensch, ungefähr zwei Handflächen groß, ist um das Kreuz gelegt. Schlaff hängt er da, der Mensch. Ein Arm und ein Bein hängen wie leblos runter. Den anderen Arm und andere Bein verschlingen die Schlangenköpfe. Sie zerreißen den Menschen. Im Rotton der Schlangenaugen fließt Blut an den Stellen, wo die Schlangen zubeißen in die Glieder des Menschen.

 

Diese Arbeit verstört mich und lässt mich weiter nachdenken. Eigentlich ist der Bischofsstab ein Hirtenstab, ein Symbol geistlicher Verantwortung. Die Arbeit des Künstlers erzählt davon, wie Kirche ihre Macht missbraucht hat. Und immer noch missbraucht. Der Mensch möchte vertrauen, sucht beim guten Hirten Geborgenheit, möchte liebevoll getragen werden wie das Schaf auf den Schultern des Hirten; wie das Kind auf den Schultern beim Papa oder im Schoß der Mutter. Stattdessen kommen Schlangen, verletzen, zerreißen und töten den Menschen. Direkt am Kreuz, vor aller Augen.

 

Diese weiße Menschenfigur am Bischofsstab des Künstlers: hier hat der Mensch sein Gesicht, seine Würde, seine Identität verloren.

Mich macht das zornig. Das Werk erinnert mich an all die Menschen, die von der Kirche, egal welcher Konfession, verletzt wurden. Frauen, Jungen und Mädchen, die von Kirchenleuten sexuell missbraucht wurden. Furchtbar, verletzend und verstörend ist das fürs ganze Leben.

Menschen werden am Kreuz von Schlangen gebissen. Ich kenne einige von ihnen: Der Junge, der benachteiligt wurde, weil er ein Junge und kein Mädchen war und dem die Reli-Lehrerin mitten ins Gesicht schlug. Lesbische, schwule oder Trans-Menschen, die in der Kirche mitarbeiten möchten und hören: „Ihre Lebensweise gehört nicht in die Öffentlichkeit“. Oder Regenbogenfamilien mit zwei Müttern und zwei Vätern, die ihr gemeinsames Kind taufen lassen wollen und dann hören: „Geht zu einem anderen Pfarrer. Wir halten hier die Ehe noch hoch.“ Oder verzweifelte Eltern, die um eine kirchliche Beerdigung für ihr verunglücktes Kind bitten und von der Pfarrerin hören: „Nein, das machen wir nicht. Ihr Sohn ist aus der Kirche ausgetreten“.

Geschichten, die mich zornig machen. Auch, weil ich selbst schon zu den Menschen gehörte, die im Raum der Kirche verletzt wurden.

 

In meiner evangelischen Kirche gibt es mit gutem Grund keinen goldglänzenden Hirtenstab für Bischöfinnen und Bischöfe. Goldglanz passt für mich auch einfach nicht als Symbol für Kirche, für das Christentum. Viel zu viele Menschen sind von Schlangen in Gold - oder Purpur oder auch in fein schwarzen Talaren - rund um das Kreuz blutig gebissen worden.

 

An dem verfremdeten Bischofsstab von Nikola Saric gefällt mir eines sehr gut: Er zeigt die Schattenseiten des Christentums. Deckt auf, dass Menschen im Namen Jesu verletzt wurden. Es ist an der Zeit, dass ich ihre Wunden sehen, ihre Gesichter erkennen kann. Dass ihre Geschichten erzählt werden, dass nichts mehr verschwiegen oder verdrängt wird.

Nur einem glaube ich den Satz: „Ich bin der gute Hirte“ – nämlich dem, der ihn gesagt hat: Jesus. Kirchenfrauen und -männer sollten sich das zum Vorbild nehmen. Und nicht vergessen, dass sie fehlbar sind.

24.09.2020
Florian Ihsen