Sommeranfang mit Etty Hillesum

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Clark Wilson

Sommeranfang mit Etty Hillesum
Morgenandacht von Pfarrer Holger Treutmann
21.06.2023 - 06:35
03.03.2023
Pfarrer Holger Treutmann
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Die Sendung zum Nachlesen: 

„Es war ein guter Tag“ schreibt die junge Frau in der Nacht zum 21. Juni 1942 in ihr Tagebuch. „Und jetzt stehen die Fenster des Wintergartens sperrangelweit offen und der Sommerabend befindet sich mitten im Raum. Auf meinem Schreibtisch stehen stolz und leuchtend japanische Lilien. Die kleine Teerose daneben ist so zerbrechlich, unscheinbar und lebensmüde.“

Als spiegelte sich ihr Lebensgefühl im Anblick dieser Schnittblumen: Eine stolze,  junge Frau, die mit ganzer Energie ihr Leben erkunden und es mit Intensität gestalten will. Und zugleich eine Geknechtete der immer drastischer werdenden Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Amsterdam durch die deutschen Besatzer.

Etty (Esther) Hillesum ist 28 Jahre alt, als sie in der Nacht zum Sommeranfang diese Zeilen zu Papier bringt. Seit 1941 schreibt die niederländische Jüdin Tagebuch, auch um sich selbst und der Tiefe des Seins auf die Spur zu kommen. Das juristische Studium hatte sie abgeschlossen und sie interessierte sich zunehmend für Psychologie. Ihre Tagebücher sind erst in diesem Jahr vollständig in deutscher Sprache erschienen.

War Etty gläubig? Sie hatte eine Bibel, vielmehr nicht. Das Wort „Gott“ benutzt sie in ihren über 1000 Tagebuchseiten sehr sparsam; aber wenn, dann immer gesättigt durch eigene Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Glück und Schmerz, ihrer Psyche, ihrem Körper und der Welt um sie herum. Sie näherte sich dem Transzendenten in einer ganz eigenen Spiritualität. In der Erkundung der Tiefen und Untiefen ihres eigenen Wesens ringt sie sich zu einer Gottesgewissheit durch, die mich tief beeindruckt. Sie war keine Glaubensheldin. Vielmehr eine junge Frau, die mit sich selbst ringt, das Selbstverständliche in Frage stellt und sich vom Unrecht nicht die Liebe zum Leben nehmen lässt.

 „Ich radelte heute Morgen die Stadionkade entlang, … und überall Schilder, die den Juden die Wege in die freie Natur versperrten. Aber über diesem Teil des Wegs, der uns noch bleibt, erstreckt sich auch der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben. … Man darf gewiss manchmal traurig und niedergeschlagen über das uns Angetane sein, das ist menschlich und verständlich. Aber trotzdem: … Ich finde das Leben schön und ich fühle mich frei. Der Himmel in mir ist genau so weit aufgespannt, wie derjenige über mir. Ich glaube an Gott und ich glaube an die Menschen, und allmählich traue ich mich, dies offen und ohne falsche Scham zu sagen.“

Etty Hillesum ahnte, dass ihr möglicherweise nicht mehr viel Zeit  blieb. Sie wollte noch so viel entdecken. So schreibt sie in derselben Sommernacht:

„Ich habe ein Buch über Russland gelesen. Allmählich verstehe ich dieses Land immer mehr und ich fange auch an, auf meine Art zu ergründen, was es Europa bieten kann. Das ist Studienmaterial für ein ganzes Leben. Ich werde schon dazu kommen. Und ich werde durch Russland hindurchziehen.“

Nein, wird sie nicht – dieses Land entdecken, aus dem ihre Mutter stammte.

Genau ein Jahr später, am Sommeranfang 1943, heute vor 80 Jahren, steht in ihrem Tagebuch:

„In der Frühe kam die Reihe Güterwaggons in das schlammige Lager gefahren. Ich stand am Rand und entdeckte in einer schmalen Öffnung oben in einem der Waggons den zerknitterten Hut und die Brille meines Vaters, den Hut meiner Mutter und Mischas schmales Gesicht. Und jetzt gehe ich hier mit ihnen den Leidensweg.“ (772)

Im Herbst wurde die Familie nach Auschwitz deportiert und dort getötet.

„Der Frieden kann erst zu einem wirklichen Frieden werden irgendwann später, wenn zuerst jedes Individuum mit sich selbst Frieden schließt und den Hass gegen die Mitmenschen, welcher Rasse oder welchen Volkes auch immer, in sich ausrottet, besiegt und in etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, vielleicht auf lange Sicht sogar in Liebe, oder ist das etwa zu viel verlangt? … Ich bin ein glücklicher Mensch und preise dieses Leben.

Und jetzt Gute Nacht, ich hoffe, morgen früh um 8 Uhr wieder bei meinen japanischen Lilien und meiner sterbenden Teerose zu sein.“ (551f.)

So schließt sie ihren Brief in der ersten Sommernacht 1942 –  vom Lebenswillen und dem Wunsch nach Frieden beseelt.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Literatur dieser Sendung:

  1. Etty Hillesum: Ich will Chronistin dieser Zeit werden, Sämtliche Tagebücher und Briefe, 1941-1943, München 2023
03.03.2023
Pfarrer Holger Treutmann