Auf Flügeln der Morgenröte – Phantasiereise

Morgenandacht
Auf Flügeln der Morgenröte – Phantasiereise
03.08.2020 - 06:35
16.07.2020
Anja Neu-Illg
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

„Von allen Seiten umgibst du mich, Gott, und hältst deine Hand über mir.“
Es ist noch früh. Früher Morgen zwischen Traum und wach. Hier ist alles gut.
Das Zimmer, mein Schlafzimmer, ist hell. An der Wand ein ganz leichter Hauch eines Rotschimmers.
Ein Lichtschein vom Fenster her. Die Sonne geht gerade auf und sendet ihre ersten Strahlen.
Es zieht mich zum Fenster. Ich öffne es weit. Frische und milde Luft berührt mein Gesicht.
Ich atme tief. Es riecht nach Sommerregen und nach Freiheit.

Licht tanzt ein wenig auf meiner Nase. Das Morgenrot zieht in Schönheit herauf, wird stärker, kräftiger. Heute leiht es mir seine Flügel. Flügel? Ja. Das Morgenrot leiht mir seine Flügel. Es hat sie auf das Fensterbrett gelegt. Ich streiche über das Gefieder. Schaue sie mir genau an. Heute sind das meine Flügel. Denn an diesem Morgen, zwischen Traum und wach, kann ich fliegen.

Ich probiere die Flügel an. Fühle mich verkleidet. Doch sie passen wie angegossen. Ein paar Flügelschläge, Flugversuche im Schlafzimmer. Es klappt. Ich kann bis zur Decke aufsteigen, durch den Raum gleiten, sicher landen. Traumhaft. Der Sommer lockt mich nach draußen. Es zieht mich in die Höhe, in die Weite in die Ferne.

Bereit, loszufliegen. Allen Mut nehme ich zusammen. Atme tief. Träume mich in den Tag - und wirklich, die Flügel tragen. Wohin ich will. Ein paar Flügelschläge und ich steige höher. Sehe das Haus von oben, den Stadtteil. Ich erkunde die Umgebung. Weiter hinten der Fluss. Ich gewinne an Höhe und schwenke dorthin. Denn am Ende muss das Meer sein. Ich kann es nur ahnen, noch nicht sehen. Doch da will ich hin. Zum Meer. Weit weg von hier.

Ich fliege über dem Fluss Richtung Meer. Nebel steigt auf. Der Fluss wird breiter. Ich gleite entspannt dahin, bis ich die Mündung sehe. Das Meer. Es zieht mich weiter. Wie ein Vogel, der seine Richtung kennt, zieht es mich weit über das Meer. Die Flügel tragen. Der Wind ist mild. Die Sonne gnädig. Ich kann weiter. Um die Wolken herum. Durch die Wolken hindurch. Weit weit über das Meer. Ich schaue auf das Wasser. Sehe meinen Schatten. Leise Schaumkronen. Delfine. Tiefes Blau. Türkis.

Rauscht unter mir hinweg. Ich spüre Kraft. Mühelos gleite ich dahin. Bis am Horizont ein Strand zu sehen ist, den ich noch nie gesehen habe. Das ist meine Richtung. Ich halte auf den Strand zu, setze vorsichtig zur Landung an. Angekommen.

Endloser einsamer Strand. Friedlich ist es hier. Die Flügel lege ich auf einen Felsen.
Sie warten dort auf mich.

Ich gehe am Strand entlang. Verweile. Das Wasser umspült kühl und klar meine Füße. Der Sand ist so fein, dass er singt. Jemand kommt auf mich zu. Die Person kommt mir bekannt vor. Erinnert mich an jemanden, der mich sehr mag.

Sie kommt näher. Ich weiß, ich kann ihr vertrauen. Ein Stück gehen wir zusammen. Niemand sagt ein Wort, aber alles ist gut. Schweigend genießen wir den Moment. Wir verstehen uns auch so.

Wir gehen weiter, schweigen, sehen auf unsere Schritte, schauen zusammen aufs Meer. So selbstverständlich. So vertraut. Sie legt ganz sanft ihren Arm auf meine Schulter. Hier geht das.

Als es genug ist, gibt sie mir einen kleinen Stups. Zeit, umzukehren, zurückzufliegen. Wir gehen zusammen zum Felsen. Ich lege meine Flügel wieder an. Wir umarmen uns zum Abschied. Ich bin bereit. Bereit für Zuhause. Der Rückflug geht viel schneller. Ich kenne die Strecke ja schon.

Weit über das Meer, den Fluss entlang bis zur Stadt, über die Stadt zum Haus. Das Fenster steht noch offen. Die Gardine weht. Flugerfahren lande ich vor meinem Bett.

Ich setze mich auf die Kante, lege die Flügel ab. Was für ein Morgen. Das Morgenrot hat mir seine Flügel geliehen. Ich war weit weg. Über die Stadt, den Fluss und das Meer bin ich geflogen, am äußersten Ende ein Stück spazieren gegangen mit einer freundlichen Person. Jetzt bin ich wieder hier. Langsam öffne ich die Augen.

„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort Gottes Hand mich führen und seine Rechte mich halten.“ Psalm 139,10
 

16.07.2020
Anja Neu-Illg