Nur du und ER

Morgenandacht
Nur du und ER
30.05.2018 - 06:35
01.03.2018
Ulrike Greim
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Denke nicht, du kommst aus der Nummer raus. Irgendeine Ausflucht, einen Ausweg, irgendein Hintertürchen. Nein, hier sitzt du mittendrin im Auge des Orkans. Kein Entrinnen.

Hier zählen nur du und ER. Vor euch: das Kind. An Schläuchen und Drähten. Irgendwelche Geräte piepen rhythmisch. Amplituden zappeln auf Bildschirmen. Es ist surreal. Es ist Nacht. Den ganzen Tag hattet ihr gekämpft. Gegen wen eigentlich?! Ihr hattet nichts mehr gesehen, nur noch dieses Kind. So jung. So unschuldig, so hilflos. Blass, die Augen geschlossen, viel zu schnell atmend. Was ist das? Ist das das Ende? Ist das nur ein kurzer Anfall?

Ihr hattet alles versucht. Notarzt, Intensivstation, das volle Programm. Immer wieder ansprechen. Kontakt aufnehmen. Schatzilein, wir sind hier. Kannst du uns hören?

Immer wieder alles machen, was geht. Fragebogen ausfüllen, Formulare, erinnern. Wo gab es das schon? Jemand in der Familie? Nein, keiner, nicht, soweit ich weiß.

Einzelne Gesprächsfetzen fliegen durch den Raum. Die Frage des Arztes. Der Name dieser Krankheit. Eine Wohlstandskrankheit, hast du gedacht. Oft gehört. Ratlos die Schultern gezuckt. Man kennt sie erst, seit der Überfluß normal geworden ist. Seitdem aber immer häufiger. Immer öfter auch: Kinder.

 

Hättest du also etwas dagegen tun können? Anders leben?

Der Arzt sagt nein. Aber: Ist es unsere Gesellschaft, die dieses Kind krankgemacht hat? Der Arzt sagt: Es sind die Gene. Die Gene verändern sich. Der Überfluss verändert die Erbanlagen.

Mein Kind liegt auf dem Altar unseres Wohlstandes?

Die Schwester kommt, schüttelt das Kopfkissen auf und misst die Temperatur und geht.

Und dann kommt eben dieser Punkt. Nichts gilt mehr. Du weißt: Jetzt gehst du mit deinem Kind den ganz steinigen Weg. Hin zum Altar des Herrn. Bitte, Gott im Himmel, suche die ein anderes Opfer. Nicht mein Kind. Ich bin nicht bereit. Ich werde es nie hergeben.

Nicht jetzt, nicht hier. Nie. Never.

Sollte es einen Gott geben, der das will? Der Kinder fordert? Auf welchem Altar dieser Welt? Kinder, die er selbst geschaffen hat? Denen er das Leben eingehaucht hat? Er wollte doch, dass sie da sind. Hat sie gerufen. Mit Namen. Hat seinen Odem in ihre kleinen Körper gegeben. Dass sie leben. Dass sie wachsen, dass sie fröhlich sind, neugierig. Dass sie die Welt erobern. Die Herzen vieler Menschen. Dass sie ihr Lied singen. Ihren Vers beitragen.

Nicht, dass sie sterben.

Nein, Gott, das kannst du nicht wollen.

 

Aber nun sitzt du hier. Mittendrin im Auge des Orkans. Kein Entrinnen.

Hier zählen nur du und ER. Vor euch: das Kind.

Er. Der große unbekannte Gott. Deus absconditus. Der abwesende Gott. Der, der sich wegdreht. Er ist allmächtig. Ja, das weißt du. Aber derart übermächtig? So erdrückend? So eiskalt? So finster? Ich kenne dich nicht. Wie soll ich dir vertrauen?

Auf dem Monitor: die kleinen grünen Kirchturmspitzen und Wellen. Immer wieder. Sie sagen: Es ist noch nicht zu spät. Das Herz schlägt noch. Du klammerst dich daran fest. Dein Kind ist noch da, irgendwie, in diesem dazwischen. In deinem Kopf: totale Konfusion. Du suchst seine Hand – und greifst ins Leere. Freies Feld, blaues Orbit, schwerelos fliegst du. Es rauscht in den Ohren. Wo bist du? Greif ein, verdammt, halte deine Hand dazwischen. Stille. Es piept, rhythmisch. Maschinen arbeiten. Gott schweigt.

Die hellblauen und roten Wellen, die Zahlen dahinter – sie sagen: Da geht noch was.

Dein Kind ist noch da. Irgendwie. Aber in diesem Dazwischen.

In deinem Kopf: die totale Konfusion.

Und du suchst Seine Hand und greifst in Leere. Freies Feld, blaues Orbit. Schwerelos fliegst du.

Es rauscht in den Ohren.

Wo bist du? Greif ein, verdammt! Greif ein! Halte die Hand dazwischen!

Stille. Es piept rhythmisch. Maschinen arbeiten. Gott schweigt.

Ja, du kannst diesem Kind auch den Atem nehmen, ich weiß es, ich weiß es wohl.

Aber willst du verlangen, dass ich es dir gebe? Ich kann es nicht. Du müsstest es mir schon aus den Armen reißen. Nenne mich ungehorsam. Nenne mich werweißwas. Ich kann es nicht.

 

Die Sekunden kleben wie Stunden, die Stunden verrinnen wie Sekunden.

Der Morgen kommt.

Und mit ihm das Leben.

Das Kind schlägt die Augen auf. Setzt sich aufrecht hin. Die Wangen haben schon wieder einen zarten rosigen Glanz. „Mama, ich brauche: mein Kuschelkissen, meine Federmappe, die neuen Tier-Bücher und Teddy Alfred.“

Dein Kind lebt. Es ist wieder da.

Danke, Allmächtiger!

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

01.03.2018
Ulrike Greim