Nur Liebesbriefe – ein Briefkasten mit Denkanstoß

Morgenandacht
Nur Liebesbriefe – ein Briefkasten mit Denkanstoß
02.04.2019 - 06:35
14.02.2019
Autor des Textes: Jan von Lingen
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Ich stehe vor einem Briefkasten. Er sieht aus wie jeder andere. Gelb natürlich. Und es stehen vorschriftsmäßig die Leerungszeiten drauf, alles ganz normal! Nur diese kleine Klappe, die man anhebt, um Briefe einzuwerfen – die ist anders. Da lese ich in großen Buchstaben: „nur liebesbriefe“. Wie von Hand geschrieben, mit schwarzem Permanentstift auf gelbem Grund. Ich stutze. Schaue genauer hin und entdecke: Jemand hat eine Folie mit diesen Worten auf die Klappe geklebt...

Zu Haus forsche ich im Internet, tippe die Worte „nur liebesbriefe“ ein und stoße auf eine Anzeige: „Na, wie wär‘ das?! In einem Briefkasten mehr Liebesbriefe! Mehr Liebesenergie für die restliche Post!“ – Mit diesen Worten wirbt eine Firma. Man kann sie tatsächlich bestellen und aufkleben, heimlich natürlich. Zu einem Bogen gehören sechs Aufkleber, wind- und wasserfest. Noch dazu UV-beständig. Tatsächlich wurden die Kleber schon an mehreren Orten auf Briefkästen gesichtet.

Und was sagt die Post? Keine Ahnung. Vielleicht: Das ist Sachbeschädigung. Schmiererei. Graffiti. Das ist verboten. Ich finde, das kann man zumindest mit Humor nehmen. Der Briefkasten überrascht und gibt einen pfiffigen Denkanstoß.

Denn: „nur liebesbriefe“ heißt es mitten in einer Zeit, in der ein neuer, ganz anderer Trend ausgemacht wird. Ein Gegentrend zu Liebesbriefen sozusagen. Und der heißt: „Singularität“. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat ihn beschrieben. Wie ein Arzt einen Patienten untersucht, so legt er unsere Gesellschaft auf die Pritsche, untersucht das Verhalten, hört die neuen Trends ab, diagnostiziert die Symptome – und sein Befund klingt so: Unsere Gesellschaft hat sich verändert und wird sich weiter verändern, wir leben in einer „Gesellschaft der Singularitäten“. So der Titel seines Buches.

„Gesellschaft von Singularitäten“. Was er damit meint? Eher das Gegenteil von „nur liebesbriefe“. Das Gemeinsame tritt immer mehr in den Hintergrund. Der Einzelne wird immer wichtiger. Die Selbstverwirklichung tritt ihren Siegeszug an. Mein besonderer Stil und meine Eigenheit zählen. Einmalig soll sein, was ich kaufe, welche Musik ich höre, der Event, der mir wichtig ist, der Ort, den ich bereise. Auf all diesen Feldern findet geradezu ein Wettbewerb statt. Man könnte auch schlicht sagen: Das „ich“ wird in unserer Gesellschaft größer, das „wir“ dagegen wird kleiner. Aber wie sähe eine Gesellschaft aus, wenn sie aus lauter Singularitäten statt aus einer Gemeinschaft bestünde?

Mich bringt der altmodische, gelbe Briefkasten, der „nur liebesbriefe“ fordert, ins Grübeln. Weniger Ich-Botschaften also, weniger Selbstbeweihräucherung, auch keine unpersönlichen Hauswurfsendungen – nur liebesbriefe! Das ist gut biblisch. Einmal schreibt Paulus in einem seiner Briefe an die Christen: „Ihr seid Briefe Christi!“ Und das haben die ersten Christen auch im Alltag vorgelebt. Sie wurden bedrängt, beschimpft, verfolgt und festgenommen. Es war gefährlich, Christ zu werden und Christ zu sein. Aber sie haben ihren Glauben gelebt. Sklaven und Freie, Männer und Frauen, Juden und Griechen feierten – so gut sie konnten – gleichberechtigt Gottesdienst und grenzten niemanden aus. Statt: „Singularität“ also eine Art „Dreiklang“: „Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“, notiert Paulus. Und ergänzt: „Die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Ja, das ist fast schon eine nahezu unverschämte Forderung: „nur liebesbriefe“. Aber eben auch ein Denkanstoß. Weniger Singularität, mehr Miteinander. Weniger Ich, mehr Du. Weniger Eigennutz, mehr Glaube, Hoffnung, Liebe.

NUR Liebesbriefe ist vielleicht zu viel verlangt – aber MEHR Liebebriefe, das wäre doch was! Vielleicht dreht und wendet man den Brief, den man gerade in den Briefkasten werfen will, noch einmal – und man fragt sich, während man die kleine gelbe Klappe anhebt: „Habe ich genug Liebe in die Zeilen hineingeschrieben?“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

14.02.2019
Autor des Textes: Jan von Lingen