Sonne

Morgenandacht
Sonne
11.01.2020 - 06:35
19.12.2019
Ulrike Greim
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Ich mag das ja, wenn es morgen jetzt wieder heller wird. Fast eine Minute eher pro Tag. Juhu. Ich warte auf das Licht. Bei uns in Weimar geht heute um 8.15 Uhr die Sonne auf. Das Licht kommt kontinuierlich näher – aber wann, das ist ortsabhängig.

In München schon 8.02 Uhr, in Hamburg eine halbe Stunde später: 8.32 Uhr.

Ungerecht, aber nicht zu ändern. In Rom: 7.36 Uhr. Manche stehen dem Licht näher.

 

Für alle gilt: Seit dem 21. Dezember drehen wir uns wieder mehr dem Licht zu. Denn natürlich geht die Sonne nicht auf, sondern wir drehen uns ihr zu.

Entscheidend ist, wann sie über unseren jeweiligen Horizont tritt. Wir alle haben sehr unterschiedliche Horizonte.

So oder so.

 

Micha zum Beispiel ist es egal, wann die Sonne aufgeht. Er kann es nicht registrieren. Wenn er heute kurz nach acht aus dem Haus geht, schaut er Richtung Nordosten und geht die hundert Meter zu seinem Auto direkt in den Sonnenaufgang. Ihn nervt, dass ihm das Licht genau in die Augen knallt. Er würde die Sonnenbrille aufsetzen, hat sie aber sicher nicht dabei.

Er kann die Sonne nicht schätzen, sie ist nur ein Störfaktor, er muss nämlich immer schnell zum Auto und ins Büro. Das Licht spielt für ihn keine Rolle. Sonne oder Neonröhre – es ist egal. Micha ist in Gedanken eh immer woanders. Immer beim nächsten Thema.

 

Ariane ist ganz anders. Ariane lebt, als gäbe es kein Licht. Sie sitzt in einer dunklen Kammer aus Trauer. Tag und Nacht. Seit dem Unfall, da war sie 14. Es ist, als wäre sie ihr Leben lang eingeklemmt in dem Auto. Lebenslang verhaftet. Keine Sonne dringt über ihren Horizont. Bis jetzt nicht.

Was sie nicht weiß: In den nächsten Wochen wird es heller werden. Auch in ihrer dunklen Trauerkammer. Er heißt Sven. Aber mehr verrate ich nicht. Nur: Er kann die Tür aufmachen. Wenigstens einen Spalt breit.

 

Norbert sitzt hinter dicken Gefängnismauern im Hochsicherheitstrakt, seit er seine Frau und deren neuen Freund auf dem Gewissen hat. Sonne gibt es kaum, Nordseite. Er hat sie sich als Postkarte an die Wand geheftet. Sonne über Strand und Palmen. Eines Tages will er Sonne satt. Keinen Beton mehr, keinen Innenhof, über den ein Netz gespannt ist. Freier Himmel, helle Sonne. Und eine Frau. Das wär‘s schon.

 

Für Susanne geht die Sonne grundsätzlich eher auf, als für andere Menschen. Denn da sitzt sie schon längst an ihrem Frühstückstisch, in eine warme Decke gemummelt, hat den Espresso in der Hand und wartet auf das Morgenrot. Sie hat ja jetzt Zeit. Ist krankgeschrieben. Für sie eine Befreiung. Sie muss nichts mehr. Sie wacht zeitig auf, sie macht sich fertig, setzt sich ans Fenster und schaut. Genießt es, wenn draußen das Leben erwacht. Wenn aus Grau langsam Farbe wird, das Fachwerkhaus geraderüber Konturen bekommt und der Baum vor dem Haus. Zwei Äpfel hängen hoch oben in der Krone. Und sie wartet auf das erste helle Licht. Hält ihr Gesicht in die aufgehende Sonne, und mag die noch so schwach sein. Am Vormittag wird sie spazieren gehen. Sie weiß immer genau, wann gerade Sonnenaufgang ist. Und der Untergang. An manchen Tagen, wenn sie Schmerzen hat und gehen muss, dann liebt sie es, der Sonne entgegen zu gehen.

 

Ruth tut das auch. Ruth wäre schon längst in Rente, wenn es in ihrem Lebensplan eine Rente gäbe. Aber Ruth arbeitet, so lange es halt geht. Morgens macht auch sie gerne einen Spaziergang über ihren Berg, schaut in östliche Richtung. Und freut sich, wenn ihr das Morgenrot entgegenleuchtet.

 

„Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte.“ So heißt es in einem alten Kirchenchoral. Ich habe Ruth einmal gefragt, wie man weiß, wo die Heimat ist. Da hat sie gesagt: „Meine Heimat ist da, von wo das Licht morgens kommt. Das sehe ich und weiß: Dort hinten, da bin ich zuhause. Hier ist immer nur ein Zwischenbescheid, eine Station.“

 

Leuchtet mir ein. Im wahren Wortsinn.

„Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte“, so singe ich den Choral gerne weiter. „Und vertreib durch deine Macht unsre Nacht“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

19.12.2019
Ulrike Greim