Steine werfen

Morgenandacht
Steine werfen
01.10.2019 - 06:35
18.07.2019
Angelika Obert
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„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ (Joh. 8,7) Das sagt Jesus im Johannesevangelium. Ein berühmter Satz, der Eingang gefunden hat in unsere Redewendungen. Auch wer die dazugehörige Geschichte von der Ehebrecherin nicht kennt, weiß: Wenn jemand einhellig moralisch verurteilt wird, dann kann man das auch „Steinigung“ nennen. Und wer die Geschichte kennt, hat dabei wohl eine junge Frau vor Augen, die von einer Horde selbstgerechter alter Männer bloß gestellt und zum Tode verurteilt werden soll – eine grausiges Bild. Wer fühlt da nicht mit der Frau, die ja nur einen kleinen Ehebruch begangen hat?

Doch ein bisschen anders wird die Geschichte in der Bibel schon erzählt. In jener fernen Zeit war der Ehebruch wirklich ein Verbrechen, weniger aus moralischen Gründen, sondern weil er die Familienordnung durcheinander brachte. Wenn die Frau fremd ging, wusste man ja nicht mehr, wer denn nun Vater der Kinder war. So war das also streng tabuisiert, ja, sogar mit Todesstrafe belegt. Die Richter, die diese Frau zu bestrafen hatten, kannten das Gesetz. Nun wollten sie aber doch wissen, was Jesus dazu sagt. Wollten ihn auf die Probe stellen: Wenn er sagt: Lasst die arme Frau doch laufen, dann ist er einer, der das Unrecht zulässt. Wenn er sagt: Tötet sie, dann ist er gar nicht so barmherzig, wie er immer behauptet. Und so führen sie die Frau zu ihm: „Hier! Eine Verbrecherin. Was sagst du?“ Und Jesus sagt erstmal gar nichts, sondern beugt sich runter und malt mit dem Finger Figuren in den Sand. Eine spannungsvolle Pause entsteht. Schließlich richtet er sich auf und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Dann malt er wieder mit dem Finger in den Sand. Und die Richter protestieren nicht. Sie schleichen sich davon, einer nach dem andern. Als Jesus wieder aufschaut, ist nur noch die Frau da. „Wo sind sie alle?“ fragt er. „Hat dich niemand verdammt?“ „Niemand,“ sagt sie.

Und wir sind froh, dass die arme Frau davon gekommen ist.

Aber wenn ich an unsere heutigen Debatten denke, weiß ich gar nicht, ob ich Jesus so einfach davon kommen lassen kann. Wenn ich ihn heute auf die Probe stellen wollte, dann würde ich ja keine junge Ehebrecherin vor ihn stellen, sondern eher einen von denen, die nach dem Umbruch in der DDR entlarvt worden sind als informelle Mitarbeiter im Staatssicherheitsdienst. Einen mit Täterakte, wo drinsteht, wie er Freunde, Nachbarn, Kollegen bespitzelt hat. Oder jetzt sogar einen von denen, die ihre Macht für sexuelle Übergriffe ausgenutzt haben. Nun, Jesus, was sagst du da? Gilt da auch: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein?“

Dann will ich dir mal was sagen: Es geht hier um manifestes Unrecht. Das muss aufgedeckt werden. Es geht um Opfer, denen Recht geschehen muss. Die Täter und auch die Täterinnen müssen beim Namen genannt werden und dazu gehört die Entlarvung. Dazu gehört die öffentliche Debatte, die Empörung, die jedenfalls symbolische Steinigung in den Medien. Wie soll es denn anders gehen? Wie soll es besser werden, wenn wir das allzu lang verschleierte Unrecht nicht offen legen und die Täter verdammen?

Nun sehe ich Jesus nach diesem langen Einspruch wieder mit dem Finger in den Sand malen. Eine Pause entsteht und es bleibt mir nichts übrig als noch einmal diesem alten Satz nachzugrübeln: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein...“

Von Entlastung und Verharmlosung ist da ja gar nicht die Rede, denke ich. Nicht von Kleinreden des Unrechts. Nur ich selbst bin gefragt in meinem Zorn auf die Übeltäter, in meiner gerechten Empörung über ihre Erbärmlichkeit. Ist es nicht so, dass ich mir ganz schön gut vorkomme, wenn ich weiß, wen ich zu verdammen habe? Dass ich es mir damit auch ein bisschen einfach mache? Sollten mein Zorn, mein Erschrecken über die menschliche Schwäche und Erbärmlichkeit mich nicht auch daran erinnern, dass ich selbst davon nicht ganz frei bin?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

18.07.2019
Angelika Obert