Vertrauen heißt: und wenn doch?

Morgenandacht
Vertrauen heißt: und wenn doch?
13.06.2019 - 06:35
25.04.2019
Jörg Machel
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Wie aus dem Nichts bricht der Mann in das beschauliche Leben des Künstlerehepaares ein, das sich auf ein abgelegenes Landgut in den Cevennen zurückgezogen hat. Er ist voller Angst, fühlt sich verfolgt, bittet um Hilfe. Er weiß um ein Geheimnis, das ihn zur Gefahr für den Staat werden lässt. Er rechnet jederzeit damit, dass man ihm auf die Spur kommt. Sein Verhalten ist verstörend, paranoid geradezu.

Die Frau des Hauses misstraut dem Eindringling. „Und wenn er verrückt ist?“, so spekuliert sie. Ihr Mann schweigt, überlegt. Dann sagt er mit leichtem Zweifel im Gesicht, doch mit fester Stimme: „Und wenn er es nicht ist?“ Und so entschließt sich der Mann, dem Fremden zu helfen, trotz aller Gefahren, denen sie sich damit aussetzen.

Das ist die Schlüsselszene in einem Spielfilm aus den frühen Siebziger Jahren, sie steht mir vor Augen, wenn es um das Thema Vertrauen geht. Der französische Film lief in der DDR unter dem Titel „Das Geheimnis“, in der Bundesrepublik hieß er „Das Netz der tausend Augen“. Jean-Luis Trintignant spielt den Verfolgten, Philippe Noiret nimmt sich seiner an. Marléne Jobert übernimmt die Rolle der Skeptikerin. Der Film ist als Kammerspiel inszeniert. Diese drei Personen genügen, um das ganze komplexe Geflecht abzubilden, in dem Vertrauen sich bewähren muss.

Es stellt sich heraus, dass der Verfolgte, obwohl sein irrationales Handeln immer wieder daran zweifeln lässt, die Wahrheit erzählt hat. Mit der fatalen Folge übrigens, dass nun auch die Helfer dieses Mannes zu Gejagten werden. Am Ende sterben alle drei im Kugelhagel einer Geheimaktion. Das System hat über ihren Mut und ihre Solidarität gesiegt. Ein düsterer Film und doch ein ermutigender Film. Dieser kleine Satz: Und wenn er die Wahrheit sagt? ist mir nie aus dem Kopf gegangen.

Für mich hat er sich vermischt mit der Geschichte, in der Jesus von einem erzählt, der hungrig, durstig, unbehaust vor unserer Tür steht und um Hilfe bittet. Und Jesus sagt, dass nun unser Heil davon abhängt, ob wir ihm Hilfe gewähren oder ihn abweisen. Als Pfarrer habe ich oft vor dieser Situation gestanden, dass Menschen vor der Kirchentür standen und um Hilfe baten. Eine Vielzahl von Lügengeschichten habe ich aufgetischt bekommen, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ein grundsätzlicher Zweifel bei solchen Geschichten an der Kirchentür war also durchaus geboten, aber da war dann dieser Satz: Und wenn ausgerechnet diese Geschichte stimmt? Wenn genau dieser Mann, diese Frau in der Nachfolge Jesu vor der Tür steht und meine Hilfe tatsächlich braucht. Und niemand sonst ist da, der ihm oder ihr gerade helfen kann? Was, wenn das meine angekündigte Prüfung ist.

Das heißt nun nicht, dass ich jedem Wunsch nachgekommen wäre, der an mich herangetragen wurde. Aber ich denke, dass ich jeden Bittsteller ernst genommen habe, egal wie viele Angriffspunkte für meinen Zweifel die vorgetragene Geschichte auch bot. Immer blieb der Gedanke, die Geschichte oder zumindest das Anliegen hinter der Geschichte könnte wahr sein und ich sollte mich darauf einlassen mit dem Bittsteller nach einem Weg zu suchen, wie ihm geholfen werden kann.

Auch ich habe schließlich die Erfahrung gemacht, dass mir in Situationen vertraut wurde, die mir selbst völlig unglaubwürdig erschienen. Banal, aber eindrücklich: Ein Schaffner, der mir einfach glaubte, dass ich den Fahrschein verloren hatte und sich mit mir freute, als ich den beim Aussteigen dann doch noch zeigen konnte. Vertrauen kann enttäuscht werden, aber ein Vertrauensvorschuss ist unabdingbar, damit unser Zusammenleben gelingen kann.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

25.04.2019
Jörg Machel