Vom Wunder, das mit dem Hinschauen anfängt

Morgenandacht
Vom Wunder, das mit dem Hinschauen anfängt
15.05.2021 - 06:35
06.05.2021
Angelika Obert
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Fast jeden Tag habe ich in den vergangenen Jahren meine Runde gemacht im nahe gelegenen Park, einmal um den See herum. Das wurde mir während des Lockdowns dann schon manch-mal langweilig: In jeder Biegung der gleiche vertraute Anblick. Ich kenne diesen Weg einfach zu gut. Doch dann gab es einen Frühlingsmorgen, da war es anders.
Im klaren Morgenlicht kamen mir die Bäume auf einmal ganz neu entgegen. Endlich sah ich sie genau in ihren wundersamen Konturen: Zuerst die drei, die da mit leicht auseinanderstre-benden Stämmen beieinander standen wie in einem ewigen Gespräch. Ich sah: Die können gar nicht ohne einander. Und dann kam einer mit wild verwirbelten Ästen. Der brauchte wohl immer einen gewissen Anlauf, um weiterzuwachsen. Sehr viel Platz für sich beansprucht der dicke mit dem knorpeligen Stamm – steht ein bisschen einsam in seiner Pracht. Sei‘s drum. Und besonders anrührend dann der Baum mit dem fast gebrochenen Stamm, der so tief über dem Wasser hängt, und doch immer noch wurzelt, bewacht von einem brüderlichen Zwilling, der auch schon recht verwittert ist. Überhaupt – die wenigsten Bäume sind ganz gerade ge-wachsen. Fast jeder hat ein bisschen Schlagseite, ein paar sehr krumme Äste, irgendeine Narbe im Stamm – und gerade so seinen eigenen Charakter und seine Schönheit. 

Was dann aber besonders wunderbar war an diesem Morgen: Je deutlicher ich jeden Baum in seiner eigenen Kontur sah, um so mehr schienen sie auch alle zusammenzurücken. Es war ganz klar, wie sie in ihrer Verschiedenheit doch unbedingt zusammengehörten. Und es leuch-tete mir ein in diesem Augenblick, dass es mit den Menschen genauso ist: Jede und jeder ist besonders, weil eben nicht einfach alles gerade gewachsen ist im Leben, weil‘s am Ende für die meisten so etwas wie herabhängende Äste, wunderliche Wirbel und eine gewisse Schlag-seite gibt. Aber gerade so gehören doch auch alle zusammen. Es gibt gar keinen Grund, mich darüber aufzuregen, dass mein Nachbar auf andere Art als ich ein bisschen schief im Leben steht. Das war schon wie ein kleines Wunder, als ich erleben durfte: Ich kann auch im allzu Vertrauten plötzlich neu sehen, endlich genauer sehen und dann tut sich auch etwas Neues für mich auf. 
„Schaut hin“ - unter diesem Motto findet in diesen Tagen der ökumenische Kirchentag statt - hauptsächlich digital. Das haben sich die Veranstalter sicher anders vorgestellt. Als sie das Motto aussuchten, haben sie auf ein neues Hinschauen in großer Gemeinschaft gehofft. Aber auch digital verbunden kann man ja darüber nachdenken, wie wunderbar sich durch einen neuen Blick auch eine neue Nähe auftut. 

‚Schaut hin‘ - das Kirchentagsmotto ist ja von einer Wundergeschichte aus dem Neuen Testa-ment inspiriert. Im Markusevangelium wird erzählt: Sehr viele Menschen sind Jesus hinterher-gelaufen an einen entlegenen Ort. Dort wollte sich die Jesusgruppe eigentlich ausruhen. Aber nun herrscht ein riesiges Getümmel. Jesus will die Leute nicht enttäuschen. Er sieht, wie sie alle so konfus durcheinanderwimmeln, mit sich selbst beschäftigt, ohne einen offenen Blick füreinander. So spricht er zu ihnen den ganzen Tag. Abends reicht es den Jüngern: „Jetzt mach mal Schluss“, bedrängen sie Jesus, „damit die Leute sich was zu essen besorgen kön-nen.“  Sie sollen sich zerstreuen, wieder auseinanderlaufen. Aber gerade das will Jesus nun nicht, dass die Leute jetzt einfach gehen, so vereinzelt, wie sie gekommen sind. Er möchte, dass sie ihre Zusammengehörigkeit erleben. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ weist er seine Jünger an. „Unmöglich!“ murren sie, „das wird doch viel zu teuer.“ „Guckt doch erstmal genau hin, was da ist“, sagt Jesus. Schaut hin. Und siehe da – bei genauem Hinsehen ist doch genug da, dass alle satt werden, einander nahe kommen, indem sie miteinander teilen und feiern. Ein Wunder, das mit dem Hinschauen anfängt.
 

Es gilt das gesprochene Wort.


 

06.05.2021
Angelika Obert