Von der Einwohnung Gottes

Morgenandacht
Von der Einwohnung Gottes
06.02.2019 - 06:35
03.01.2019
Autor des Textes: Eberhard Hadem
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Als Christ glaube ich daran, dass Gott die Welt geschaffen hat. Viel mehr noch: Ich glaube sogar, dass die Schöpfung noch nicht abgeschlossen, sondern andauernd im Gange ist. Mich reizt es, die Natur als einen Raum zu denken, in dem die Schöpfung nach wie vor geschieht.

Ein Blick in die Bibel zeigt die Vorstellung von Gott, der in allen Dingen ist. Gott umgibt uns von allen Seiten, wie es der Psalm 139 sagt. Gott ist ein Raum, in dem wir leben, uns bewegen und uns entfalten. Gott umgibt mich, wie die Luft einen Adler oder das Meer einen Fisch umgibt. Wohlgemerkt: Gott ist nicht das Meer, und das Meer ist nicht Gott. Ich glaube nicht pantheistisch, als wären Natur und Gott dasselbe. Aber es wäre zu wenig gesagt, dass Gott nur wie das Meer ist, als sei das Meer eben nur ein Gleichnis für Gott. Gott ist auch nicht im Meer, wie ein Fisch im Meer ist. Aber Gott ist auch im Meer, so wie er in allen Dingen ist. Auch wenn er nicht mit ihnen identisch ist. Allerdings – einen Lebensraum aller Geschöpfe zu beschreiben, in dem ich mit ihnen in Gott lebe, da komme ich an die Grenze meiner sprachlichen Möglichkeiten.

Die Mystiker reden von der ‚Einwohnung Gottes‘ in allen Dingen. Gott ist da – und bleibt dennoch ein Gegenüber. Mit der Vorstellung vom Geist Gottes in allem ist eine große Erzählung in der Welt. In ihr kann auch ich kleiner Mensch meinen Platz finden, weil dieselbe Natur mir zur Schöpfung wird. Da wird die Luft, die ich einatme, zum Raum, in dem ich Mensch in Gott schwebe. Da wird das Meer in seiner Weite zum Gleichnis für eine Tiefe in Gott, in die ich mich versenken kann. Da werden die Blumen, die sich der Sonne zuneigen und sich öffnen für das ankommende Licht, zum Bild für den Menschen, der sich für Gott öffnet. Und der majestätische Adler, der sich zum Himmel aufschwingt, zum Bild für das Herz, das sich zu Gott erhebt.

Diese Bilder, diese Erzählungen sind in der Welt. Sie hindern mich daran, die Welt und mich als etwas Getrenntes zu verstehen. Als könnte ich die Schöpfung – andere sagen: Natur – in die Hand nehmen wie jemand einen Hammer in die Hand nimmt. Für mich ist es auch kein Widerspruch, dass ‚das stoffgemisch, aus dem unser blut und unser fleisch sind […] sich in derselben menge in der sonne und auch in der erde [findet], die sich aus allen elementen des universums zusammensetzt. (1) Ich begreife vielmehr, dass ich den rationalen Geist des Menschen nicht für die einzige Art Geist im Kosmos halten sollte.

Manchmal, wenn ich sehr früh am Morgen wach werde, gehe ich nach draußen und sehe das Gras im Garten. Im Licht der aufgehenden Sonne erkenne ich Millionen von Tautropfen auf jedem Grashalm. Jeder Tropfen steht neben seinem Nachbarn, ohne sich mit ihm zu verbinden. Jeder spiegelt den ganzen Himmel mit seinem Glanz von oben. Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg hat davon gesprochen, Gott komme zu der von ihm geliebten Seele wie ein Tau auf Blumen.(2)

Maler, Fotografen, Dichter, Naturwissenschaftler – sie alle erforschen das Wesen des Tautropfens. Die Fähigkeit zur Kohärenz, der Wasserspannkraft, die Spiegelungen und das Wachsen. Sie erforschen, wann jener Moment gekommen ist, da das Gewicht des Wassers den Tropfen vom Grashalm löst durch die Erdanziehungskraft, und vieles mehr. Dichter und Maler werden angezogen von der fragilen und dennoch starken Spannung, wie sich das Wasser auf einem Grashalm hält, ein Bild der Stärke und Zartheit der Natur. So zart und stark belebt auch Gottes Geist alles, was wächst.

Geistige und naturwissenschaftliche Erkenntnisse müssen nicht auseinanderfallen. Beide Erkenntnisweisen können sich wertschätzen und befruchten. Genauso, wie sie sich auch widersprechen und miteinander streiten können, ohne Zwang einer Übereinstimmung aller Dinge. Das hilft, mit wachen Augen durchs Leben zu gehen. Das hilft, gemeinsam die Schöpfung zu bewahren, für den Schutz der Natur einzutreten. Worin Gott wohnt, ist jeden Schutz wert.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

  1. Raul Schrott. Erste Erde Epos. Hanser München 2016, Seite 236
  2. Wie Gott in die Seele kommt: Ich komm zu meinem Lieb wie der Tau auf die Blume (FLG I, 13) aus: Mechthild von Magedeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Auszüge in Hochdeutsch aus: Das fließende Licht der Gottheit. Übersetzung, Einführung und Kommentar von Margot Schmidt. MyGG I 11. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann- Holzboog Verlag 1995

 

03.01.2019
Autor des Textes: Eberhard Hadem