Wer ist mein Nächster?

Morgenandacht
Wer ist mein Nächster?
14.05.2019 - 06:35
21.03.2019
Autorin des Textes: Dagmar Köhring
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

So etwas habe ich noch nie erlebt: Seit einer Woche habe ich einen Gast in meinem Motel, für den ein anderer zahlt! Nicht ein Bekannter oder die Firma – nein, ein Wildfremder. Ein Ausländer! Und der hat eine Menge bezahlt. Und will noch mehr zahlen, wenn es mehr kostet. Denn der Motelgast, den er hier anbrachte, der war krank. Ach, was sage ich, krank – der war ein Wrack! Total zusammengeschlagen. Auf einem Parkplatz ist das passiert. Da ist der wohl aus Versehen in ein Drogendealermeeting geraten und hat sich nicht schnell genug verdrückt. Ganz übler Autobahnabschnitt ist das hier. Jedenfalls hatte er ein paar gebrochene Rippen, blaue Flecken überall und zugeschwollene Augen. Nachdem der Notarzt da war, haben wir ihm Süppchen gekocht und täglich die Bettwäsche gewechselt. Als er nach ein paar Tagen wieder sprechen konnte, bin ich zu ihm rein, um zu fragen, wie er in diesen Zustand geraten ist.

 

Er ist Handelsvertreter, erzählte er. War einfach auf der Reise von Köln nach München. Es war schon dunkel, und er fuhr auf irgendeinen Parkplatz. Da sah ein paar lederbejackte Typen in schicken Wagen, Päckchen gingen hin und her – ihm wurde schon mulmig. Ja, und dann sahen sie ihn. Die haben nicht lange gefackelt. Haben ihn zusammengeschlagen und halbtot liegen lassen. Und sein Auto und seine Papiere haben sie auch gleich mitgenommen.

 

Da lag er dann im Dunkeln. Nach einer Weile kam ein anderer PKW. Zwei Frauen mit Häubchen stiegen aus. Die haben ihn wohl gesehen und gehört, wie er wimmerte – aber sie trauten sich nicht, näher zu kommen und fuhren schnell weiter. Genauso eine deutsche Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder. Die Kinder waren wohl müde und quengelten, und die Mutter schrie auf, als sie ihn sah. Da stopften sie die Kinder ins Auto und fuhren schnell weg. Ja, und dann kam plötzlich ein Mercedes angerauscht. Ein gut gekleideter Geschäftsmann stieg aus – dunkle Haare, dunkler Bart – ich tippe mal auf Araber oder Syrer oder so, auf jeden Fall Orient. Und der ging sofort zu ihm hin. „Was ist Ihnen denn passiert“, fragte er wohl, mit starkem Akzent. Aber der Mann konnte ja gar nicht antworten. Da zog er die Jacke aus, schob den Mann mühsam auf den Rücksitz von seinem schicken Wagen und fuhr auf den nächsten Rasthof. Den Rest weiß ich selber: Es klingelte Sturm an der Motel-Rezeption, der Fremde sagte: „Ich habe wenig Zeit, aber dieser Mann braucht Hilfe. Bitte kümmern Sie sich darum. Ich gebe Ihnen Geld. Wenn Sie mehr brauchen, hier ist meine Handynummer.“ Dann war er auch schon wieder weg.

 

„Ich kann Ausländer gar nicht leiden“, gestand mir mein unfreiwilliger Gast, als ich ihm die Handynummer weitergab, damit er sich bei seinem Retter bedanken kann. „Bisher habe ich immer gedacht: Die überfluten hier nur unser Land und nehmen uns die Frauen und Arbeitsplätze weg. Aber wenn der mir nicht geholfen hätte, wäre ich da auf dem Parkplatz verreckt. Meine Landsleute haben sich ja schön sauber aus dem Staub gemacht.“

 

Da kann man mal wieder sehen: Es ist schwer vorauszusagen, auf wen man sich in der Not verlassen kann. Ich weiß nicht, ob ich auch so beherzt gehandelt hätte wie dieser fremde Geschäftsmann. Aber jetzt werde ich die Augen offenhalten. Letztlich sind wir doch alle Menschen. Und wer weiß, wann ich selbst mal Hilfe brauche…

 

Diese Geschichte hat Jesus in der Bibel erzählt, im 10. Kapitel des Lukasevangeliums. Natürlich nicht genau so, sondern auf dem Hintergrund seiner Zeit, in der er lebte. Jemand hatte ihn gefragt, wer denn nun dieser Nächste sei, den man so lieben soll wie sich selbst, und Jesu Antwort war: Der, der vor deinen Füßen liegt. Oder vor dessen Füßen du liegst. Wenn’s ernst wird, spielen Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht usw. keine Rolle. Dann zählt nur Mitmenschlichkeit.

 

(Lukas 10, 25-37)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.03.2019
Autorin des Textes: Dagmar Köhring