Zeit ist Gnade – ein Perspektivwechsel

Morgenandacht
Zeit ist Gnade – ein Perspektivwechsel
06.04.2019 - 06:35
14.02.2019
Autor des Textes: Jan von Lingen
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Er ging ans Rednerpult und zog die Eieruhr auf. 3 Minuten! Länger wolle er nicht reden, sagte er. Eigentlich hätte er sich mehr Zeit nehmen können, denn es war ja sein großer Tag. Er war der Jubilar. Und viele haben ihn gedrängt, das müsse er feiern und noch einmal eine große Rede halten. Schließlich habe er so viele öffentliche Ämter bekleidet und genieße hohes Ansehen.

Entsprechend festlich war die Stimmung, als sich zunächst Freunde und Weggefährten zu Wort meldeten. Sie würdigten sein Lebenswerk und hoben seine Charaktereigenschaften hervor – natürlich nur die guten. Schließlich trat der Jubilar selbst ans Rednerpult, zog die Eieruhr auf und sagte: Er wolle nur drei Minuten reden. Dankbar auf das Buffet schielend, nahmen die Gäste das zur Kenntnis. Und während die Uhr hörbar am Mikrofon tickte, sagte der Jubilar, er habe im Leben so ziemlich alles falsch gemacht. Zu viel für die Karriere gearbeitet, die Ehe vernachlässigt, sich zu wenig Zeit für seine Kinder genommen, schließlich Raubbau an seiner Gesundheit betrieben. Als die Eieruhr nach 3 Minuten klingelte, brach er mitten im Satz ab und setzte sich. Ungläubiges Staunen und verlegenes Hüsteln in den Sitzreihen.

Die Eieruhr und jene Rede habe ich tatsächlich so gehört und nie vergessen. Nicht nur die ehrlichen Worte haben mich bewegt, sondern auch die hörbar tickende Uhr. Denn die mahnte nicht nur an die dreiminütige Redezeit, sondern auch an vertane Lebenszeit, die der Jubilar öffentlich bekannte. Die Uhr tickt, das sagt man gerne, ohne den Gedanken so recht ernst zu nehmen. Vor gut sechseinhalb Stunden ging schon wieder ein Tag zu Ende. Doch dann hat jemand für uns die Uhr neu gestellt. Noch einmal 24 Stunden, ein neuer Tag. Was will ich mit der Zeit anfangen?

Zu oft blicken wir in der Gesellschaft nur auf die vergehende, zerfließende Zeit. Sie ist ja oft genug wie ein Hamsterrad, aus dem es kein Entrinnen gibt. Chronos – so heißt das griechische Wort dafür. Gemessen von einem Chronometer, ein anderes Wort für Uhr. Doch die Währung von Jahr, Monat und Tag, Stunden, Minuten und schließlich Sekunden – das ist messbare Zeit, die vergeht, wie ein Naturgesetz. Und weil Menschen mit jedem Tag älter werden, wird sie manchmal als gnadenlos erlebt.

Eine Kirchturmuhr in Laatzen in der Nähe von Hannover macht da nicht mit. Diese Kirchenturmuhr ist anders. Sie weigert sich partout, Zahlen auf ihrem Zifferblatt zu haben – und zeigt stattdessen Buchstaben. Sie gruppieren sich rund um den Stunden- und den Minutenzeiger. Buchstaben wie Z oder G oder s oder a sind auf dem Zifferblatt zu sehen, es sind genau 12 Buchstaben an der Zahl!

Sie gruppieren sich zu einem Satz. Wer zur Kirchturmuhr hinaufschaut, liest: „Zeit ist Gnade“. Zwölf Buchstaben für zwölf Stunden. Ein Perspektivwechsel! – Zeit ist eben nicht allein etwas, das sich messen lässt wie die gezählte Minute oder die vergehende Stunde. In jeder Stunde weisen die Zeiger bei ihren Runden auf diese Worte: „Zeit ist Gnade“.

Das ist gut biblisch. Denn es gibt im Griechischen neben Chronos ein zweites Wort für Zeit: „Kairos“. „Kairos“ ragt aus dem Alltag heraus, ist ein schöner Moment. Kairos ist sinnvoll verbrachte, gestaltete Zeit. Ein Kairos ist etwas ganz Anderes als eine Uhr, die uns mit ihrem Ticken auf das Ende eines Moments aufmerksam macht. Wenn Jesus einen Menschen heilt, jemanden tröstet, Schuld vergibt, dann erfüllt sich die Zeit, dann ist „Kairos“! Zeit, gefüllt mit Segen.

Auf diesen „Kairos“ will ich nicht erst im hohen Alter zurückblicken. Ich will ihn suchen, jeden Tag neu. Ich will fragen: Wem will ich mich zuwenden? Welchen Moment will ich genießen, wahrnehmen und für ihn danken? Und: Was will ich glauben, hoffen und wie lieben? Dafür ist genau der richtige Zeitpunkt – jetzt!

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

14.02.2019
Autor des Textes: Jan von Lingen