Nach dreißig Jahren

Spurensuche
Nach dreißig Jahren
12.10.2019 - 10:00
08.11.2019
Lucie Panzer
Über die Sendung:
Hunger ist schlimm. Der körperliche Hunger sowieso. Aber auch der Lebenshunger kann einen quälen.

 

 

Zum ersten Mal in Italien

„Kommt doch mit!“ Herzlich klang die Einladung der Hamburger Freundin am Telefon. Die beiden Ost-Berliner jubelten: Zehn Tage Toskana! Und das im Frühjahr 1991. Ein altes Bauernhaus hatten die westdeutschen Freunde dort, zusammen mit vier andern Paaren. Einmal im Jahr trafen sie sich dort alle miteinander. „Kommt doch mit!“ Kein Problem für die Ostdeutschen. Sie sind unternehmungslustig und kontaktfreudig und nun sehr neugierig auf das Abenteuer: Italien! Aber so schön wurde die Reise für die beiden dann doch nicht. Wenn sie sich allzu lebhaft am abendlichen Gespräch beteiligten, fiel schon mal die Bemerkung: „Ihr könnt doch gar nicht mitreden.“ Wenn sich so etwas wie Vertrautheit mit den neuen Bekannten ergab, traf sie gleich ein eifersüchtiger Blick von den westdeutschen Freunden. Und einmal zogen die Wessis auch einfach los und rechneten damit, dass die ostdeutschen Gäste inzwischen auf die Kinder aufpassen würden. Da waren sie nun endlich im Land der Olivenhaine und des Cappuccino, aber kein Tag verging, an dem man es sie nicht merken ließ: Ihr seid hier die armen Verwandten.

Wie wir gewirkt haben müssen

Die Frau, die mir von dieser, ihrer ersten, Italienreise erzählt, hat als Dozentin und Lektorin gearbeitet. Sie ist klug und lebhaft, klagt nicht, erzählt bloß, wie‘s war, während wir beide in einem Zug sitzen, der sich arg verspätet hat. Und ich, schon ziemlich müde, kann mir genau vorstellen, wie sie sich gefühlt haben muss damals. Ob‘s an der Müdigkeit liegt, dass da kein Abstand mehr ist? Auf einmal merke ich es mitten im eigenen Herzen: Wie auch die wohlmeinenden Westdeutschen gewirkt haben müssen auf die Ostdeutschen. Wie das ist, wenn zahllose kleine Zeichen signalisieren: Wo‘s lang geht, das wissen wir besser als ihr.

Wüstenwanderung

Aber am Ende waren die kleinen Kränkungen nicht das große Problem. Das Problem war: Der Verlag machte zu. Ihr Job war weg. Das Institut musste einsparen. Sein Job war auch weg. Und da waren sie Anfang Vierzig und hatten zwei Kinder zu Hause. Niemals hätten sie sich das träumen lassen, als die große Zuversicht ausbrach im Herbst 89, dass sie in solche Ungewissheit hineinstolpern würden. In solche Existenzängste. Hier ein Projekt, da ein Projekt, jahrelang nichts, was Sicherheit versprach. Als sich die Dinge dann wieder ordneten, waren die Kinder schon groß.

„Da habt ihr wirklich was geleistet!“ sage ich – und kann das jetzt auch fühlen:

Was für eine Leistung, dieser lange Durststrecke mitten im Leben, all diese Neuanfänge, diese Tapferkeit, die so gänzlich ungewohnte Unsicherheit durchzustehen.

Natürlich habe ich gewusst von den vielen Arbeitsplätzen, die verschwanden. Ich habe mich empört über die Umtriebe der Treuhand, ich ahnte wohl, dass der Umbruch schwer war. Damals gab es in der Kirche ja auch immer wieder Andachten, die von der langen Wüstenwanderung sprachen, die nach dem Aufbruch kommt.  Aber erst an diesem Abend im Zug kommt‘s wirklich bei mir an, was das heißt: Wüstenwanderung! Völlige Ungewissheit! Und immer weiter müssen, trotzdem.

Endlich

Damals in den 90ern war ich bei allem Wissen einfach zu sehr mit meinen eigenen Herausforderungen im vereinigten Deutschland beschäftigt. Und traue mich nun auch, davon zu erzählen: Dass ich mich ja gar nicht so selbstbewusst westlich unter den Brandenburger Kolleginnen und Kollegen bewegt habe, sondern eher schlechten Gewissens, weil‘s ja stimmte: Wir hatten zum verwöhnten Teil der Kirche gehört, wir hatten keine Ahnung.

Nach dreißig Jahren geht‘s auf einmal. Wir können es uns erzählen, wie uns zumute war – ostdeutsch, westdeutsch – und kommen uns endlich richtig nah.

 

 

 

08.11.2019
Lucie Panzer