Das Spiel dauert neunzig Minuten

Wort zum Tage
Das Spiel dauert neunzig Minuten
03.07.2018 - 06:20
20.06.2018
Dietrich Heyde
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Die Zeit, die ist sonderbar. Mal ist sie rein gar nichts, aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Fußballspieler und Zuschauer können das auf ihre Weise bestätigen. Ist ein Rückstand aufzuholen, dann können die letzten Spielminuten wie nichts sein. Aber wenn man sehnsüchtig auf den Schlusspfiff wartet, kann eine Spielminute zur Ewigkeit werden. Bisweilen braucht man eben gute Nerven beim Fußball.

Aber: „Das Spiel dauert neunzig Minuten“, hat Sepp Herberger, der Sieger der Fußballweltmeisterschaft von 1954, gesagt. Er hat es öfter mit hintergründigem Lächeln wiederholt: „Das Spiel dauert neunzig Minuten.“ Nicht ohne Grund.

 

Beruht nicht der Reiz und die ganze Faszination des Fußballspiels gerade darauf, dass es eine begrenzte Zeit hat?! Durch die Grenze der Zeit bekommen die Aktionen in den neunzig Minuten ihre Bedeutung, ihr je eigenes und besonderes Gewicht. Weil das Spiel nicht ewig dauert, geht es letztlich in jedem Spielzug um Alles oder Nichts. Warum sollten die Spieler Tordrang und Siegeswillen innerhalb der neunzig Minuten entwickeln, wenn dazu später noch Zeit wäre.

 

Ich glaube, auch die Schönheit der Welt und die Kraft und Dynamik menschlichen Lebens rühren daher, dass nichts auf dieser Erde ewig dauert, sondern alles seine begrenzte Zeit und Stunde hat. In einem biblischen Psalm heißt es: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn‘s hoch kommt, so sind‘s achtzig Jahre…und es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ (Psalm 90) Der Psalmbeter zieht daraus den Schluss: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Offensichtlich hat die Weisheit, die einem Menschen zuteil werden kann, etwas damit zu tun, dass er um seine Lebensgrenze weiß. Gerade durch die Grenze der Zeit bekommen unsere Entscheidungen Gewicht und unser Dasein Tiefe. Und wer wirklich um die Grenze seiner Spieldauer und um die Grenze seines Lebens weiß, spielt von Beginn an so, wie er am Ende auch gespielt haben möchte.

 

Das Spiel dauert neunzig Minuten: Worauf es ankommt, ist, die Spielzeit des Lebens zu nutzen. Worauf es ankommt, ist, nicht kleiner zu sein als der Augenblick, der uns gegeben ist. Und wenn du – durch welche Umstände auch immer – kurz vor Spielschluss im Rückstand stehst, vergiss nicht: du hast noch Chancen bis zur letzten Spielminute. In der letzten Spielminute sind schon Spiele umgedreht worden. Da hat jemand neunundachtzig Minuten lang wie der sichere Sieger ausgesehen und am Ende doch verloren. Und ein anderer, der wie der sichere Verlierer aussah, kam noch auf die Siegerstraße. Weil das so möglich ist, dürfen wir keinen Menschen unterschätzen – auch nicht uns selbst. Ich bin gewiss, dass jeder Mensch irgendwann seinen Zeitpunkt und seine Stunde hat.

20.06.2018
Dietrich Heyde