Das wahre Bild

Wort zum Tage
Das wahre Bild
14.07.2020 - 06:20
25.06.2020
Hannes Langbein
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Es war einmal ein König, der war krank und konnte keine Heilung finden. In der ganzen Stadt Edessa, in der heutigen Türkei, hatte er Ärzte konsultiert. Doch niemand hatte ihm helfen können. Da hörte er von Jesus von Nazareth: Blinden sollte er geholfen, Lahme zum Gehen gebracht haben. Der König ließ nach ihm schicken. Doch Edessa war weit und Jesus von Nazareth konnte nicht kommen.

Da rief der König seine Hofmaler herbei und flehte sie an: „Bringt mir wenigstens ein Bild dieses Mannes, damit ich gesund werde!“ Die Maler liefen eilends. Aber als sie den Heiland fanden, stießen sie auf ungeahnte Schwierigkeiten: Das Antlitz Christi veränderte sich immer wieder. Und ein überirdischer Glanz blendete die Maler. Kurz davor, ihr Werk abzubrechen, jammerte es Jesus, nahm eine ihrer Leinwände und drückte sein Antlitz in das Tuch. Der Abdruck heilte den König…

Ein Märchen? – In der Tat, eine Legende aus dem 4. Jahrhundert nach Christus, die zeigt wie viel Kraft Bildern in den frühen Zeiten des Christentums zugeschrieben wurde: Die Vorstellung, dass ein Bild die heilsame Gegenwart eines Abwesenden hervorbringen könnte, war weit verbreitet – zu allererst wenn es um sogenannte „acheiropoieta“, „nicht von Menschenhand gemachte Bilder“, ging. Diese Bilder sollten, wie der Abdruck eines Gesichtes, ohne Beteiligung von Künstlern, also ohne menschliches Zutun entstanden sein – und verbürgten daher eine umso größere Glaubwürdigkeit. Das „echte Bild“, das „wahre Bild“ Christi wurde im Gesichtsabdruck des Heilands im Tuch der Maler von Edessa gesehen – und also mit entsprechenden Heilserwartungen verbunden.

Magie? Hokuspokus? – Es ist leicht, über diese Form der Bildgläubigkeit zu lächeln. Aber einen Moment weiterdenken und sich fragen: ob wir nicht selbst ab und an liebevoll ein Bild unserer Liebsten anschauen und auch darüber streichen? – Es gibt Menschen, die sich in den schwierigsten Situationen ihres Lebens an einem solchen Bild gehalten haben – und sei es an einem verblichenen Foto im Portemonnaie.

„Wir sind nie modern gewesen“ schreibt der französische Soziologe Bruno Latour und erinnert daran, dass auch wir Gegenwartsmenschen noch besondere Erwartungen an Bilder haben. Vielleicht keine Heilserwartungen, aber doch ein Gefühl dafür, dass Bilder mehr sind als bedrucktes Papier. Wahrscheinlich ist das auch gut so. Gerade jetzt, wo wir mehr denn je über Distanzen mit Bildern kommunizieren.

Es gilt das gesprochene Wort.

25.06.2020
Hannes Langbein