Die große Welt im kleinen Dorf

Wort zum Tage
Die große Welt im kleinen Dorf
14.01.2021 - 06:20
12.01.2021
Michael Becker
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Sie ist eine Dame von Welt: Caterina Valente. Heute wird sie neunzig Jahre alt und lebt in der Schweiz. Als Dame von Welt kam sie in mein kleines Dorf. Im Rundfunk. Ich wurde groß mit ihr. Ganz Paris träumt von der Liebe, sang sie; und Komm ein bisschen mit nach Italien. Ich kannte weder Paris noch Italien. Das war die große Welt in meinem kleinen Dorf. Von ihr konnte ich nur träumen, damals, in den Sechzigern. Aber immerhin träumen. Im Dorf war die Welt nach ein paar hundert Metern zu Ende. Bei Frau Valente nicht. Da gab es auch Paris, Italien, Sonne und Mittelmeer.

          Geboren wurde Caterina Valente in Paris. Ihre Eltern waren Künstler, die kleine Caterina war früh im Zirkus und auf der Bühne. Nach dem Krieg dann begann ihre große Karriere, erst im Rundfunk, dann in Film und Fernsehen. Immer fröhlich oder wehmütig, immer perfekt gekleidet - zum Träumen schön für einen kleinen Jungen wie mich. In einem Dorf, in dem die Welt aus Kuhställen, schlechten Straßen, Gärten und einem Bus bestand, der in die große Stadt fuhr. Frau Valente machte meine Welt viel größer, als sie war; traumgroß sozusagen.

          Man braucht ja den Traum. Der kleine Junge braucht ihn, die erwachsene Frau, und die Alten brauchen ihn. Kein Leben ist ohne Traum, kleine oder große. Vieles davon erfüllt sich gar nicht im Leben, aber das ist nicht wichtig. Der Traum selber ist wichtig. Dass man nicht bei sich verharrt, sondern über sich hinausdenkt oder -wünscht. Der Traum ist meine offene Tür zur Welt. Und wenn es nur ein kleiner Wunsch ist: er ist nötig. Ob ich es Wunsch oder Traum oder Hoffnung nenne, ist auch nicht wichtig. Es geht um die offene Tür ins Mehr; mehr als nur ich und meine kleine Welt. Die offene Tür in die große Welt und in Gottes Welt. Da gibt es auch viel zu hoffen, zu wünschen und zu träumen über mich selbst hinaus: Dass ich freundlich sein kann zu anderen, mir das Leben gut tut, dass Gott mir gnädig ist. Heute und immer. Und ich anderen gnädig bin, so viel wie möglich. Träumen und Hoffen sind offene Türen. Wie beim kleinen Jungen im Dorf. Der hörte Catarina Valente und staunte über die große Welt. Und alle träumten sie damals schon. Vor allem von der Liebe.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

12.01.2021
Michael Becker