Die Zeitzeugin

Wort zum Tage
Die Zeitzeugin
09.04.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Früh am Morgen hatten wir uns verabredet in dem kleinen Dorf, eine Dreiviertelstunde von der Großstadt entfernt. Am Hoftor begrüßte uns Norbert, der Landwirt. Er führte uns über den Hof zu einem Stallgebäude. Hier gab es viel Platz. Etliche Quadratmeter hatte er zur Verfügung gestellt, um Gegenstände und Möbel aus unserer Berliner Kirchengemeinde für zwei Jahre auszulagern. Unsere Bauarbeiten waren inzwischen vorbei. Heute wollten wir den Rücktransport der Sachen besprechen, und ein paar Tische und Stühle schon mitnehmen.

 

Wir fingen an, aufzuladen, was in unseren Kleintransporter hinein passen würde. Da entdeckten wir hinten, in der Ecke, eine große Ansammlung von Metall-Stangen und Zahnrädern. Dazu ein schweres, meterlanges gusseisernes Gerüst, mit ein paar beweglichen Achsen und Wellen. In dabei stehenden kaputten Holzkisten waren Schrauben und Muttern aufbewahrt, die offenbar dazu gehörten. Rostige, schwere Metallketten lagen daneben.

 

Wir begriffen erst, was das war, als unser Freund Norbert die beiden verbeulten, mit Patina überzogenen Kupfer-Bleche auf dem Stallboden frei räumte. Er hob sie hoch. Und im Morgenlicht, das durch das Stallfenster fiel, schimmerten diese schmalen Metall-Streifen rötlich, und golden! Es waren Uhr-Zeiger! Dieses verrostete Ensemble aus Eisenstangen und Zahnrädern waren die Überreste der Turmuhr unserer Versöhnungskirche. Vor 58 Jahren war die Uhr stehengeblieben, als durch den Bau der Berliner Mauer niemand mehr die Kirche betreten konnte. Sie stand an der Bernauer Straße, von Ost und West unzugänglich, mitten im Grenzstreifen. Letztendlich wurde das Gotteshaus sogar gesprengt, 1985. Gerade noch rechtzeitig hat damals irgendjemand ein paar Tage zuvor die Turmuhr ausgebaut.

 

„Auch ohne Turm könnte eure Uhr wieder laufen“, meinte Norbert. Als Landwirt war er es gewöhnt, Geräte aus altem Material wieder in neue Funktion zu bringen. „Ihr müsst euch entscheiden“, sagte er, „ich brauche hier wieder den Platz im Stall. Wir könnten das Uhrwerk als Schrott abfahren lassen“, überlegte er. „Oder – ihr bringt sie wieder in Gang, und zeigt sie in Berlin den Menschen, in einem Gehäuse aus Plexiglas“, begann er zu schwärmen. „Stellt euch mal vor, was diese Uhr für eine Zeit-Zeugin ist, im wahrsten Sinne!“

 

Norberts Zuversicht an jenem Morgen war der Impuls für das Fundraising-Projekt „Uhr der Versöhnung“. Hunderte Berliner haben sich schon daran beteiligt, und Förderer aus ganz Deutschland. Sie unterstützen die Wiederbelebung der Uhr nicht nur, um an einem verwundeten Grenzort mitten in Berlin ein filigranes technisches Denkmal zu retten. Sondern aus der Ahnung heraus, dass diese Uhr für eine Lebenshaltung steht: Auch nach langem, erzwungenem Stillstand kann eine neue Zeit anbrechen.

28.02.2019
Autor des Textes: Thomas Jeutner