Distanz

Wort zum Tage
Distanz
Wort zum Tage
25.09.2020 - 06:20
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Ich bin ein anderer Mensch geworden. Statt Freunde bei der Begrüßung in die Arme zu schließen, bediene ich mich jetzt einer japanischen Geste und verneige mich kurz. Wen ich besonders mag, bei dem wandert die Hand jetzt automatisch zum Herz – ansonsten tut mein Körper, was Corona ihm beigebracht hat: Er wahrt die Distanz. Im Bus und auf der Straße, auf dem Flur im Büro und beim Einkaufen: Es liegt eine Bannmeile zwischen mir und meinem Nächsten.

Erst war das schwer, jetzt fällt es leicht: Ich rücke automatisch ab, wenn mir einer zu nahe kommt. Sehe mich vorwurfsvoll um, wenn jemand die Bodenmarkierung im Kassenbereich missachtet oder im Vorbeijoggen neben mir zu schnaufen beginnt.

Distanz ist das Gebot der Stunde – auch in der Kirche. Sonntags im Gottesdienst: Die Pfarrerin vorne – ich weit hinten in der letzten Reihe, die Stühle alle einzeln gestellt mit vorgeschriebenen  Abstand. So sitzen wir da als Gemeinde – jeder einzeln und für sich. Ein surreales Bild. Und statt mich auf die Predigt zu konzentrieren, kommen mir Verse aus einem Gedicht in den Sinn – von Hermann Hesse: „Seltsam, im Nebel zu wandern… kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein.“  Eine Kirche voller Menschen, doch am Ende nicht Gemeinschaft – jeder sitzt auf seinem Stuhl ganz  unverbunden, abgerückt, entrückt. Jeder auf sich gewiesen. Leben auf Distanz.

Ich mag das manchmal. Dass überall, wo ich jetzt bin, weniger sind, in einer Großstadt, wo man sich so schnell auf die Füße tritt. Ich mag Distanz im heißen Sommer. Nicht den Schweiß meines Sitznachbarn beim U-Bahnfahren in der Nase. Ich mag Distanz sogar im Gottesdienst, wo manches schlichter, unaufgeregter, meditativer jetzt ist ohne lautes Singen, ohne Anfassen. Distanz bedeutet Platz für mich, Raum für meine Gedanken. Fühlt sich gut an.

Und dann weist mich Corona schmerzlich auf die Distanzen, die immer schon da waren in meinem Leben – auch vor Corona: Menschen, die mich verlassen haben und von denen ich nichts mehr wissen will, Menschen, die gestorben sind, die ich nie wieder berühren kann, Menschen, die weggezogen sind in die Ferne und die ich vermisse in meinem Leben.

Distanz macht Sehnsucht möglich. Wie wenn einer in einer Beziehung allein auf Reisen geht. Und so sitze ich da auf meinem Stuhl für mich allein im großen Kirchenraum und denke nach über mich und über mein Leben und was es ausmacht und plötzlich ist mir einer nahe im Nebel, der sich lichtet. Denn mit Gott ist es ja genauso – er ist so oft auf Distanz. Nicht spürbar, nicht greifbar. Die große Sehnsucht in meinem Leben, die mich so oft trägt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.